Die Diagnose einer schweren Erkrankung bedeutet schwere Monate mit zahlreichen Arztterminen, Medikamenten, Behandlungen, Operationen und Rehabilitationsprogrammen. Die Liste scheint endlos und die Heilung gleicht einer Odyssee. Eine schnelle, unkomplizierte und effiziente Heilung wäre wünschenswert, nämlich indem sie gezielt auf das individuelle Krankheitsbild abgestimmt ist.
Dieses Ziel verfolgt personalisierte Medizin. Gemeint ist damit, dass ein Patient oder eine Patientin ganzheitlich hinsichtlich Prävention, Diagnostik und Behandlung unter Einbeziehung individueller Gegebenheiten betrachtet wird. Aktuell liegt der Fokus auf der Medikation und Behandlung von Krankheiten. Insbesondere in der Onkologie ging die Entwicklung der letzten Jahre verstärkt dahin, die genaue Krebsart der oder des Erkrankten zu ergründen und die Behandlung entsprechend zuzuschneiden. Denn heute weiß man: Krebs ist nicht gleich Krebs, sondern jede Krankheit und jeder Verlauf kann unterschiedliche Ausprägungen haben. Zwar gibt es Tumorarten, die durch einen „generellen“ Ansatz gut heilbar sind – beispielsweise Gebärmutterhalskrebs. Doch für signifikante Fortschritte in der Therapie ist der breit gefächerte Ansatz nicht zukunftsfähig. Deshalb ist eine der großen Frage unserer Zeit: Wie kann ein Patient oder eine Patientin das bestmögliche Angebot erhalten, angepasst auf sein individuelles Krankheitsbild und sein sich oft änderndes Umfeld?
Gen- und Gesundheitsdaten sind der Schlüssel
Die Antwort dafür steckt in den Genen und Proteinen der betreffenden Person. Diese müssen durch eine DNA-Sequenzierung analysiert und die Informationen in Regeln übersetzt werden. Diese Daten wiederum müssen aufgenommen, gesammelt und mithilfe von KI-Technologien analysiert, klassifiziert und in der Forschung eingesetzt werden.
Eine große Herausforderung besteht darin, geeignete Vergleichsdaten zu finden. In dieser Hinsicht steckt das deutsche Gesundheitssystem noch in den Kinderschuhen. Was vonnöten ist, sind „Real World Data“, also Daten, die im therapeutischen Alltag statt in Studien erhoben werden. Zwar gibt es hierzulande erste Register unter anderem für Tumorerkrankungen, durch die sich Rückschlüsse für die Krebsforschung ziehen lassen. Aber auf dem Weg zur personalisierten Medizin gibt es noch viele Hürden zu überwinden.
Von Stolperstein zu Stolperstein
Das Problem ist vielschichtig. Erstens gleicht es einer Mammutaufgabe, derartige Register in das komplexe Ökosystem Healthcare eines großen, bevölkerungsstarken und föderalistischen Landes einzubetten. Zweitens existieren derzeit nur kleine Register von verschiedenen Anbietern, die sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen. Zwar gibt es Bestrebungen, einen Datenaustausch voranzutreiben. Doch aufgrund der diversen Herangehensweisen muss zunächst eruiert werden, inwiefern sich die Daten unterscheiden, ehe man sie zusammenbringt. Dies beginnt auf lokaler Ebene mit regionalen Registern und erstreckt sich auf nationaler und internationaler Ebene. Tatsächlich wäre ein globaler Ansatz erforderlich, um Gesundheitsdaten zu sammeln, auszutauschen und in die Forschung einzubeziehen.
Und drittens: Angenommen, die Datenbanken wären groß genug und ausreichend analysiert. Um für ein Individuum daraus die perfekt zugeschnittene Behandlungsmethode herauszufinden, muss entschieden werden, wie man die Datensätze filtert. Einerseits braucht es den Blick auf das Individuum, andererseits muss der Datensatz aber auch eine statistische Bedeutung haben. Sprich: Es müssen sich Schnittmengen zu nicht exakt gleichen, aber doch ähnlichen Krankheitsbildern bilden lassen, um Rückschlüsse ziehen zu können. All dies sind hochkomplexe Fragestellungen, die zu beantworten sind.
Quo vadis, Deutschland?
In anderen Ländern – auch innerhalb der EU – gibt es bereits beachtliche Fortschritte. Gerade die Niederlande, Finnland und Estland sind führend im Hinblick auf gesundheitsbezogene Registerinitiativen. In Deutschland stehen Datenschutzängste, aber auch mangelnde politische Unterstützung noch im Weg.
Was wäre also hierzulande notwendig, um personalisierte Medizin zu fördern? Zunächst braucht es eine klare, strategische Zielvorgabe aufseiten der Politik. Die vielen unterschiedlichen Interessensgruppen müssen stärker eingefangen und moderiert werden. Im nächsten Schritt ist der Grundsatz „infrastructure first“ essenziell. Es müssen die technischen Voraussetzungen in Form einer medizinisch-wissenschaftlichen Infrastruktur geschaffen werden, die belastbar und sicher ist. Dann braucht es mehr Information und Kommunikation in die Gesellschaft, um Datenschutzängste zu nehmen und stattdessen hervorzuheben, welchen Mehrwert die Erhebung von Gesundheitsdaten bringen kann. Auch hinsichtlich der KI-Technologien, die für die Analysen zum Einsatz kommen, müssen Ängste adressiert und minimiert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt: Das Thema Gesundheit muss sich mehr am Menschen und seinen Bedürfnissen orientieren. Es geht nicht nur um eine zu behandelnde Krankheit, sondern um eine gesamte Lebenssituation, die sich schlagartig ändert. Was kann ein Gesundheitssystem zusätzlich leisten, das zur Genesung beitragen kann? Welche Stressfaktoren lassen sich eliminieren? Dafür ist eine ganzheitliche Betrachtung der Patientin oder des Patienten unerlässlich, auch hinsichtlich administrativer Aufgaben oder auf prozessualer Ebene.
Rosige Aussichten
Wie könnte eine Zukunft mit personalisierter Medizin also aussehen? Das Idealbild setzt voraus, dass eine riesige Referenzdatenbasis vorhanden, strukturiert und klassifiziert ist und so erlaubt, Vorhersagen zu treffen und zugeschnittene Behandlungen zu ermöglichen. Die Behandlung von Krankheiten funktioniert nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip, sondern ist gezielt auf die Einzelperson zugeschnitten. Darüber hinaus muss sich der oder die Betroffene vom Anfang bis zum Ende des Verlaufs gut aufgehoben fühlen: Der Arzt oder die Ärztin hat bereits beim ersten Besuch alle relevanten Informationen über den gesundheitlichen Zustand der Person vorliegen. So spart sie sich lange Wartezeiten, das mehrfache Ausfüllen verschiedener Formulare oder auch widersprüchliche Aussagen vonseiten der Ärztinnen und Ärzte. Diese können wiederum auf Basis der Referenzdaten direkt Entscheidungen treffen, wie die Therapie vonstattengehen soll. Alles geht Hand in Hand und sowohl Behandelnde wie Behandelte als auch weitere Akteure des Gesundheitssystems wissen, was zu tun ist.
Thomas Kraft ist promovierter Physiker und seit 1999 im Bereich Life Sciences in verschiedenen Rollen tätig. Sein Fokus liegt auf Themen wie Kundenmanagement und -analytik im globalen Gesundheitsmarkt sowie der Digitalen Transformation in der Pharmaindustrie. Seit neun Monaten ist er Leiter des Kompetenzzentrums „Market Excellence“ bei msg.
Joachim Stengel hat Wirtschaftsinformatik studiert und ist seit über zehn Jahren als Berater im Bereich Life Sciences in verschiedensten Rollen tätig. Sein Fokusthema ist die Digitale Transformation in der Pharmabranche. Seit 2020 ist er bei msg Senior Manager und dort verantwortlich für den Ausbau des Themas Digital Health.