Standpunkte Deutschlands „War for Talent“ findet längst im Ausland statt

In Amman, Tunis und Delhi wird die Zukunft der deutschen Wirtschaft mitentschieden, glaubt Matthias Mauch, Gründer und Geschäftsführer von TERN Deutschland, einem international tätigen HR-Tech-Unternehmen. Aus den Hauptstädten Jordaniens, Tunesiens oder Indiens verließen nämlich dringend benötigte Fachkräfte ihre Heimat. Welches das Zielland ist, sei jedoch offener denn je.
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Jetzt kostenfrei testenWir brauchen sie dringend: Bis 2035 werden im deutschen Gesundheitswesen 1,8 Millionen offene Stellen erwartet, so eine Prognose der Beratung PwC. Zur Dimension: Das ist die Einwohnerzahl Hamburgs. Diese Lücke lässt sich nicht allein durch heimischen Nachwuchs und Automatisierung schließen.
Und doch ist keinesfalls klar, dass Fachkräfte aus dem Ausland in Deutschland in die demografische Bresche springen wollen. Auch Staaten wie Katar, Saudi-Arabien, Dubai, USA oder Kanada buhlen um die qualifizierten Köpfe. Die Rufe, gerade von der arabischen Halbinsel, sind verlockend: In Katar ist unselbstständige Arbeit einkommensteuerfrei. Saudi-Arabien bietet eine Saudi Green Card mit Vorteilen auch für Angehörige.
Und Deutschland? 2024 kam die Diskussion auf, ob ausländische Fachkräfte befristet günstigere Steuersätze erhalten sollten. Ein solcher Anreiz wäre auch ökonomisch durchaus nützlich, kostet doch der Umzug hierher bereits mehrere tausend Euro und wird hauptsächlich für Miete und unmittelbaren Konsum veräußert. Was in anderen europäischen Ländern Praxis ist, sorgte in Deutschland für kurze mediale Aufregung. Mehr wurde nicht daraus.
Kurzum: Der „War for Talent“ findet längst im Ausland statt – und Deutschlands Wirtschaft, Öffentlicher Dienst und Politik müssen den internationalen Fachkräften endlich ein rundes Angebot machen.
Wer Talente will, muss Präsenz zeigen
Steuerlich kann Deutschland in seinem Angebot also nicht punkten, womit aber dann? Versetzen wir uns in die Lage von Fachkräften: Würden wir uns für den Start eines neuen Lebens- und Arbeitsabschnitts in Deutschland eher von einer anonymen Stellenanzeige überzeugen lassen? Oder von Vertreter:innen einer Klinik oder Pflegeeinrichtung, die sich vor Ort vorstellen, den Austausch suchen und Fragen beantworten zu dem, was die Menschen erwartet?
Immer wieder gibt es bei den Kennenlernen von internationalen Fachkräften und deutschen Unternehmen diese kurzen, magischen Momente, in denen es auf beiden Seiten „Klick“ macht. Wenn HR-Verantwortliche sehen, wie Fachkräfte kulturell sozialisiert sind. Wenn sie die Bedeutung von Familie, von Essen, von Gemeinschaft „in echt“ erleben. Und wenn genauso die Fachkräfte feststellen, dass die Menschen in Deutschland Humor haben und für Werte einstehen. Gerade die Vermittlung von Werten – Freiheit, Sicherheit, Selbstbestimmung – lässt sich durch echte Gespräche, also Offline-Gespräche, viel besser herstellen. Sie sind Deutschlands Gewicht in der Waagschale, wenn Fachkräfte ihren zukünftigen Weg planen.
Nicht nur Politiker:innen, auch Arbeitgeber und Personalverantwortliche sollten daher vor Ort präsent sein – in Sprachschulen, in Kliniken. Sichtbarkeit ist essenziell, um mit unserem Angebot wahrgenommen zu werden. Doch es braucht noch mehr.
Digitalisierung. Tempo. Digitalisierungstempo!
Ein unabdingbarer Schritt, damit ein Job-Angebot überhaupt angenommen werden kann: Tempo im Verfahren. Zwar haben sich im beschleunigten Fachkräfteverfahren durch Covid digitale Fortschritte ergeben. Doch das reicht nicht.
Der neue Koalitionsvertrag kündigt nun „eine digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung – ‘Work-and-stay-Agentur’ – mit einer zentralen IT-Plattform als einheitliche Ansprechpartnerin für ausländische Fachkräfte“ an. Sofern diese Plattform schnell kommt und für Tempo sorgt, wäre das ein wichtiger Baustein im Prozess. Doch entscheidend bei der Fachkräftevermittlung wird letztlich sein, dass der Bedarf der Wirtschaft getroffen wird. Angebot und Nachfrage müssen weiterhin erfolgreich zusammenfinden und auch im Einwanderungsprozess gemeinsam agieren. Im angelsächsischen Raum dauern diese Prozesse einige Wochen, in Deutschland einige Monate.
Solange Dutzende Schritte im beschleunigten Fachkräfteverfahren teils parallel an unterschiedlichen Stellen angeschoben werden müssen, bleibt Deutschland im globalen Wettbewerb im Nachteil.
Ein gutes Angebot beinhaltet auch Wohnraum – und Integration
Und es geht nicht nur darum, die Fachkraft nach Deutschland zu holen, sondern ihr auch Gründe zum Bleiben zu geben. Natürlich sind hier die Rahmenbedingungen besser als in der Heimat – doch sind sie auch besser als in Frankreich, Dubai oder Kanada? Ganz zentral ist hierbei Wohnraum. Wir kennen Fälle, wo Mitarbeitende in Kliniken schlafen, damit sie unterkommen – das kann eine günstige Lösung sein, als integrative Gesellschaft sollten wir aber an einer langfristigen Lösung festhalten.
Fachkräfte bleiben, weil sie von Arbeitskolleg:innen mit zur Freiwilligen Feuerwehr oder dem Yoga-Kurs genommen werden; vor allem die Vereine sind hier, wie so oft, der Kitt unserer Gesellschaft. Fachkräfte bleiben auch, weil es im Unternehmen gemeinschaftliche Kochabende gibt. Oder weil es im Bezirk niedrigschwellige Angebote für bürokratische Fragen gibt. Denn diese Elemente sorgen für soziale Bindungen, für ein Gefühl von Sicherheit in einer fremden Umgebung. Den Höhepunkt erreichen diese Bindungen der neuen Kolleg:innen oft mit dem Beginn des Kindergartens oder der Einschulung der Kinder: Eine weltweit führende Schul- und Universitätsausbildung – und das umsonst? Kaum zu glauben!
All das ist Teil des Angebotspakets, das wir Fachkräften im Ausland machen müssen. Die Botschaft muss sein: Du bist in Deutschland nicht alleine, wir nehmen dich als ganzen Menschen wahr.
Nicht perfekt, aber mit einem guten Angebot
Wollen wir als Deutschland im internationalen „War of Talent“ bestehen, müssen wir schneller und sichtbarer in den Heimatländern von Fachkräften sein und ihnen ein gemeinsames Angebot unterbreiten. Wir müssen Strukturen schaffen, mit denen es schnell gelingt, die richtigen Köpfe ins Land zu holen.
Wir müssen darüber aufklären, dass Deutschland zwar steuerlich nicht lockt, aber ein ziemlich lebenswertes – und sicherlich nicht perfektes – Land ist. Ein Land, das hohe Anforderungen an Zuziehende stellt, sich aber auch freut, wenn Menschen aus dem Ausland Teil der Gemeinschaft werden und diesen auch aktiv entgegenkommt. Dann sind die in zehn Jahren drohenden 1,8 Millionen offenen Stellen im Gesundheitswesen zwar immer noch eine Menge, aber doch ein wenig besser zu bewältigen.
Dr. Matthias Mauch ist Gründer und Geschäftsführer von TERN Deutschland, einem international tätigen HR-Tech-Unternehmen mit Sitz in Berlin. Sein Team und er rekrutieren und integrieren Talente, vor allem im Gesundheitsbereich.
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