Die Alarmglocken schrillen schon lange und immer lauter, doch hören wollte sie bislang noch keiner: Die finanzielle Basis unseres Gesundheitssystems gerät zusehends in Schieflage. Im Jahr 2021 verbuchten die gesetzlichen Krankenkassen mit einem Fehlbetrag von 5,8 Milliarden Euro das größte Defizit ihrer Geschichte. Besonders besorgniserregend: Noch 2018, also drei Jahre zuvor, verzeichneten die Kassen ein Plus von etwa zwei Milliarden Euro. In einem überwiegend umlagefinanzierten Gesundheitssystem ist diese Entwicklung alarmierend.
Ebenso alarmierend sind Versuche, das schnell wachsende Defizit allein mit der Pandemie zu erklären. Natürlich war Corona zum Teil für diese Entwicklung verantwortlich, aber eben nicht einzig und allein, denn gleichzeitig gab es auch kostensenkende Faktoren, etwa der Verzicht auf Arztbesuche oder elektive Eingriffe. Die Wahrheit ist vielmehr: Die schon seit längerem bekannten System- und Strukturfehler des deutschen Gesundheitssystems wirken sich in Kombination mit dessen Ineffizienz nun auch wirtschaftlich massiv aus.
Digitalisierung ist kein Allheilmittel
Digitalisierung ist ein zentraler Lösungsansatz, um die Gesundheitsversorgung von morgen nicht nur medizinisch leistungsfähiger zu machen und die Beschäftigten durch die Unterstützung bei Routinen zu entlasten, sondern vor allem auch effizienter und damit kostenschonender zu arbeiten. Die Digitalisierung ist aber kein Allheilmittel, kein Automatismus, der alle vorhandenen Strukturprobleme löst. Im Gegenteil: Digitalisierung bleibt weitgehend wirkungslos, wenn sie nicht auf strukturierten, sinnvollen Prozessen beruht. Das haben wir an der Universitätsmedizin Essen im Rahmen unserer Smart Hospital-Strategie erfahren, bei der wir zunächst die Abläufe verbessert und erst in einem zweiten Schritt digitalisiert haben.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns in Deutschland zum wiederholten Mal der Diskussion um unsere Krankenhauslandschaft stellen, denn der größte Teil der Ausgaben für das Gesundheitssystem entfällt auf diesen Bereich. Die über 1900 Kliniken sind das medizinische und organisatorische Rückgrat der Gesundheitsversorgung, was grundsätzlich einen hohen Kostenanteil rechtfertigt. Allerdings ist die aktuelle kleinteilige Krankenhausstruktur nicht zukunftsfähig: Mehr als die Hälfte der Kliniken sind kleine und kleinste Häuser mit maximal 200 Betten und einem eingeschränkten Leistungsspektrum.
Wir haben zu viele Krankenhäuser
Darüber hinaus liegt Deutschland im europäischen Vergleich mit durchschnittlich knapp acht Krankenhausbetten pro 1000 Einwohnern in der absoluten Spitzengruppe. Frankreich etwa kommt mit rund 5,8 Betten aus, die Niederlande mit 3,8 und Dänemark mit 2,6 Betten. Die USA liegen bei durchschnittlich 2,8 Betten auf 1000 Einwohner, Neuseeland bei 2,5. Werden die Menschen dadurch bei uns signifikant älter? Keineswegs, denn die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland lag 2020 mit 83,7 Jahren bei Frauen und 79 Jahren bei den Männern ungefähr im Mittel aller OECD-Länder.
Um es klar zu sagen: Eine signifikante Ausdünnung der Krankenhauslandschaft ist vor diesem Hintergrund unausweichlich. Wir haben zu viele Kliniken, mehrere hundert Häuser sind nach Expertenmeinung überflüssig. Es steht somit außer Frage, dass Krankenhäuser geschlossen, zusammengelegt oder umstrukturiert werden müssen. So entstehen mehr spezialisierte Zentren, die mit ihrer ausgewiesenen Expertise komplexe Fälle behandeln. Mittelgroße Einheiten übernehmen die Basisversorgung, kleinere Kliniken stellen in Verbindung mit Medizinischen Versorgungszentren unter Nutzung von Telemedizin die Basis-Gesundheitsversorgung sicher.
Unter dem Strich verbleiben im Idealfall vielleicht 1400 Kliniken, die künftig zudem Aufgaben in der ambulanten Versorgung übernehmen könnten – auch um dem Mangel an Hausärzten zu begegnen. Andere europäische Staaten sind hier ein gutes Beispiel, in Deutschland hingegen spielen die Krankenhäuser für die ambulante Versorgung bislang nur eine geringe Rolle.
Der politische Wille fehlt
Es bleibt die zentrale Frage der Umsetzung. Jeder Lokalpolitiker weiß, dass die Schließung kleiner Krankenhäuser vor Ort einem politischen Selbstmord gleichkommen kann. Daher kann die notwendige Strukturreform nur zentral auf Grundlage eines übergeordneten Konzeptes, aber eben unabhängig von lokalen Befindlichkeiten stattfinden. Insofern ist es bemerkenswert, dass Gesundheitsminister Lauterbach Anfang Mai eine 16-köpfige „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ einberufen hat, um die Sachlage abermals zu erörtern und die erforderlichen notwendigen Maßnahmen zu definieren.
Es fehlt nicht die Analyse, sondern der politische Wille zur konsequenten und nachhaltigen Umsetzung. Es ist zu bezweifeln, ob ein Expertengremium an diesem Handlungsdefizit nachhaltig etwas ändert. Zudem verlieren wir wieder Zeit, die wir angesichts der drängenden Probleme im Gesundheitswesen nicht haben. Der Krankenhausplan NRW könnte als Positivbeispiel dienen, wenn die angekündigten Maßnahmen dann auch tatsächlich umgesetzt werden.
Die nachhaltige Konsolidierung der Krankenhauslandschaft muss Hand in Hand gehen mit der weiteren Digitalisierung. Beides bedingt einander: Ein zukunftsfähiges Krankenhaussystem braucht eine digitale Infrastruktur, ebenso wie Digitalisierung ein neues Denken in den Krankenhäusern braucht, um nicht an Reibungsverlusten sowie schlechten Prozessen zu scheitern.
Das Gesundheitswesen muss nachhaltiger werden
Auch vor dem Hintergrund des Pflegenotstands – der im Grunde bereits ein umfassender Personalnotstand in vielen medizinischen Bereichen ist – wird zunehmend klar: In konsolidierten Strukturen zerfasert die knappe Ressource an medizinischem und pflegerischem Personal nicht wie bislang, sondern lässt sich durch die Nutzung von Skaleneffekten effizienter einsetzen. Das allein wird den Pflegenotstand zwar nicht gänzlich beseitigen, aber zu einer spürbaren Verbesserung beitragen. Es rücken dann andere, sinnstiftende Aufgaben in den Mittelpunkt. Mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten oder auch die Nachhaltigkeit in der gesundheitlichen Versorgung – eine weitere extrem wichtige Zukunftsaufgabe, der sich das Krankenhaus von morgen mit deutlich mehr Nachdruck als bisher stellen muss.
Allein in Deutschland gehen jährlich rund 57,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent und damit 5,2 Prozent der gesamten nationalen Emissionen auf das Konto des Gesundheitswesens. Damit trägt eine Branche, die sich doch eigentlich der Gesundheit des Menschen verschrieben hat, Verantwortung für den Klimawandel – ein Widerspruch, den es aufzulösen gilt. Denn nur in einer gesunden Umwelt können Menschen wieder gesund werden und dauerhaft gesund bleiben.
Jochen Alfred Werner, 63 Jahre, ist Ärztlicher Direktor und Vorstandvorsitzender des Universitätsklinikum Essen.