Standpunkte Weniger Kontrolle, mehr Verantwortung – wie die Krankenhausreform gelingen kann

Die Krankenhauslandschaft in Deutschland steht an einem Scheideweg, Veränderungen sind zweifelsohne notwendig, schreibt Thomas Lemke, Vorstandsvorsitzender der Sana Kliniken und DKG-Vizepräsident. Die Klinikreform der ehemaligen Bundesregierung wird jedoch ohne Korrekturen nicht die erforderlichen Ziele erreichen: Stattdessen gefährden Überregulierung, falsche Anreize und strukturelle Finanzierungsdefizite ihren Erfolg. Anpassungen seien daher zwingend erforderlich.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testenWer bestellt, muss auch bezahlen – das klingt banal, ist aber das zentrale Prinzip eines funktionierenden Gemeinwesens. Im deutschen Krankenhauswesen wird dieses Prinzip seit Jahrzehnten mit dramatischen Folgen für die ökonomische und operative Stabilität der Kliniken unterlaufen. Der Umbau unserer Versorgungsstrukturen wird nur gelingen, wenn die Politik endlich bereit ist, Verantwortung abzugeben, Spielräume zu schaffen und die strukturellen Defizite der Krankenhausfinanzierung zu beheben.
Die Krankenhäuser befinden sich seit Jahren in einer systemischen Zwischenlage im Niemandsland zwischen Markt- und Planwirtschaft. Auf der Beschaffungsseite sind sie den Marktmechanismen nahezu ungeschützt ausgesetzt: Energie, Technik, Medikamente und Personal werden zu Marktpreisen beschafft. Auf der Leistungsseite hingegen greift der Staat tief ein: Leistungen werden zentral gesteuert, Budgets gedeckelt, Preise normiert. Diese Kluft zwischen freier Kostenentwicklung und regulierter Leistungsvergütung ist dauerhaft nicht tragfähig und reißt selbst solide wirtschaftende Häuser zunehmend in die Verlustzone.
Die jüngsten Beschlüsse der Gesundheitsministerkonferenz (GMK), die unter anderem vier Milliarden Euro Soforthilfen sowie mehr Flexibilität bei der Krankenhausplanung vorsehen, setzen ein wichtiges Signal. Sie schaffen kurzfristig finanzielle Entlastung und Orientierung. Doch sie greifen zu kurz: Die eigentlichen strukturellen Probleme – unterfinanzierte Investitionen, mangelnde Planungssicherheit und überbordende Regulierung – bleiben ungelöst.
Systematisch unterfinanziert
Die ökonomische Krise der Krankenhäuser ist kein Betriebsunfall, sondern das Ergebnis einer systematisch dysfunktionalen Finanzierung:
- Problemquelle 1: Investitionen, für die die Länder zuständig sind. Diese kommen ihren Verpflichtungen seit Jahrzehnten nicht im gebotenen Umfang nach. Statt jährlich etwa sechs Milliarden Euro, die nach Schätzungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) nötig wären, zahlen sie nur rund drei Milliarden Euro. Das Investitionsvolumen hat sich seit den 1990er-Jahren halbiert – trotz steigender technischer und baulicher Anforderungen.
- Problemquelle 2: Betriebskosten, die über ein mengenbasiertes DRG-System gedeckelt und in wachsendem Maße überreguliert sind. Seit Jahren bleiben die Kliniken auf inflationsbedingten Mehrkosten sitzen, während die Politik gleichzeitig immer mehr Vorschriften, Meldepflichten und damit neue Bürokratie erzeugt. Die Folge: ein System, das wirtschaftlich stranguliert und operativ überfrachtet ist.
Das mengeninduzierte DRG-System hat viele Häuser über Jahre zur Ausweitung von Fallzahlen gezwungen. Nicht, weil sie das wollten, sondern weil sie über Mengeneffekte steigende Kosten kompensieren mussten. Parallel wurden Investitionen durch Eigenmittel oder Kredite finanziert, weil staatliche Mittel ausblieben. Heute finden sich in den Bilanzen der Krankenhäuser – unabhängig von ihrer Trägerschaft – Verbindlichkeiten in Milliardenhöhe. Das ist kein Marktversagen, sondern die Folge fehlgeleiteter Steuerung.
Reform ja – aber bitte ohne neue Fehlanreize
Der Reformansatz, die Krankenhausplanung künftig stärker qualitäts- und leistungsorientiert zu gestalten, ist richtig. Doch die Umsetzung leidet an denselben Grundproblemen wie viele Vorgängerreformen: zu technokratisch, zu starr, zu bürokratisch. Insbesondere das Konzept der Vorhaltefinanzierung in seiner aktuellen Form ist kontraproduktiv. Es erzeugt neue Fehlanreize, ohne die gewünschte Entkopplung von Fallzahlen tatsächlich zu erreichen. Bei einer Optimierung des angedachten Systems durch die Träger laufen wir in eine Rationierung von Leistungen hinein. Statt Strukturreform erleben wir Regelungskomplexität, die Arbeitskraft in den Häusern weiter bindet und unnötige Kosten erzeugt.
Wenn die Vorhaltefinanzierung wirklich einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten soll, braucht es ein System, das sich an den realen strukturellen Anforderungen orientiert – also an nachvollziehbaren Vorhaltekosten typischer Versorgungsprofile, nicht an bürokratisch konstruierten Durchschnittswerten. Zugleich muss dieses System Effizienz sichern: durch Benchmarking, durch Mindestanforderungen an Qualität und Auslastung und durch flexible Planungsspielräume für die Länder, die den tatsächlichen Versorgungsbedarf in der Region abbilden.
Bürokratie abbauen, Daseinsvorsorge sichern
Entbürokratisierung ist kein Nebenschauplatz, sondern eine zwingende Voraussetzung für eine tragfähige Krankenhausreform. Die tägliche Bürokratielast in Krankenhäusern hat ein Maß erreicht, das Versorgungsqualität mindert und Personal demotiviert. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte dokumentieren mitunter stundenlang – oft für Statistiken, deren Nutzen niemand prüft. Die aktuelle Regulierungsdichte lähmt das System und lässt hochqualifizierte Fachkräfte ihre eigentliche Aufgabe aus den Augen verlieren: die Versorgung von Patientinnen und Patienten.
Die Ankündigungen zum Bürokratieabbau im Koalitionsvertrag sind daher wichtig – entscheidend ist nun die Umsetzung. Krankenhäuser haben konkrete Vorschläge vorgelegt: von der Streichung unsinniger Datenlieferpflichten über ein Moratorium bei Personalbemessungsinstrumenten bis hin zur Harmonisierung paralleler Prüfregime. Das ist kein Wunschzettel, sondern ein wirtschaftliches und medizinisches Notfallprogramm. In der Vorhabenplanung des Gesundheitsministeriums ist das Thema gelistet, so wie es im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Allerdings ohne zeitliche Angaben, wann das Thema angepackt wird.
Ein weiterer Punkt darf nicht länger ausgeklammert werden: die Ungleichbehandlung unterschiedlicher Träger. Wenn öffentliche Häuser aus Steuermitteln unterstützt werden, freigemeinnützige und private Träger aber ausgeschlossen bleiben, entsteht ein Wettbewerbsnachteil, der nicht nur ökonomisch, sondern auch verfassungsrechtlich fragwürdig ist. Dabei sind alle Träger Teil der Daseinsvorsorge und damit auch Teil der Lösung.
Weniger Kontrolle, mehr Verantwortung
Die Krankenhausreform ist eine große Chance, wenn sie mit Augenmaß, Vertrauen und ökonomischer Vernunft gestaltet wird. Es geht nicht um Rückzug des Staates, sondern um einen neuen Ordnungsrahmen, in dem Verantwortung delegiert und nicht zentralistisch kontrolliert wird. Weniger Kontrolle heißt nicht weniger Qualität – im Gegenteil: Nur wer den Spielraum hat, Entscheidungen selbst zu treffen, kann Versorgung innovativ, effizient und patientennah gestalten.
Deutschland braucht leistungsfähige, differenzierte Krankenhausstrukturen – nicht trotz, sondern wegen unserer föderalen Vielfalt. Die Politik muss jetzt den Mut aufbringen, sich vom Irrglauben an steuerbare Komplexität zu verabschieden und stattdessen die Bedingungen schaffen, unter denen kluge Köpfe in den Kliniken Verantwortung übernehmen können.
Thomas Lemke ist Vorstandsvorsitzender der Sana Kliniken AG und Vizepräsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testen