Wenn Ärzt:innen eine Digitalisierungspause – wie beim Ärztetag geschehen – fordern, hagelt es heftige Kritik. Gewiss ist Deutschland weit abgeschlagen, was die Digitalisierung im Gesundheitswesen angeht und der Aufholbedarf ist groß. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung erreicht Deutschland im internationalen Vergleich unter 17 Ländern den vorletzten Platz.
Christian Weiss, Geschäftsführer des Investmentfonds Heal Capital, warf den Ärzten und Ärztinnen in einem Standpunkt vor, die Digitalisierung auszubremsen. Als Digital-Health-Unternehmerin teile ich seinen berechtigten Frust über den zähen Fortschritt. Aber als Ärztin stellt sich mir die Frage, ob Digitalisierung als Selbstzweck oder als Mittel zum Zweck gesehen werden sollte. Das Hauptproblem bilden nicht die angeblich „digitalisierungsmüden“ Mediziner:innen, sondern das Versäumnis für Ärzt:innen einen Mehrwert durch Digitalisierung zu schaffen oder diesen zumindest als Narrativ deutlich zu etablieren. Deutschland braucht Visionen und es braucht Mut, aber vor allem braucht es ein Zielbild mit einem klaren Nutzen für Mediziner:innen und Patient:innen.
Die von der Politik vertretende Auffassung, dass Mediziner:innen ihre Praxen gewissermaßen nebenbei – quasi über Nacht – digitalisieren können, ist nicht ganz richtig. Dafür haben die meisten schlicht keine Zeit, da sie sich vor Patienten kaum noch retten können. Die aktuellen Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) verdeutlichen die Situation in den Praxen: 553 Millionen Behandlungsfälle jährlich bei 101.932 Praxen, was damit knapp 5500 Fällen pro Praxis pro Jahr entspricht. Jeder Arzt und jede Ärztin arbeitet im Schnitt 53 Stunden pro Woche, darunter zunehmend nicht mehr nur in der Patientenversorgung, sondern mit einem steigenden Anteil vor allem für administrative Aufgaben.
Auch die monetären Aufwände für eine geeignete IT-Infrastruktur sind immens: Allein von 2017 bis 2019 sind laut Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung die durchschnittlichen IT-Kosten der Praxen in der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung um knapp 60 Prozent gestiegen und lagen damit 2019 bei mehr als 6.000 Euro jährlich. Und dann wurde den Ärzt:innen die staatlich finanzierte Telematikinfrastruktur (TI) „verordnet“. Kaum funktionierte die Technologie, war sie auch schon wieder veraltet. Diesen September fiel der Beschluss, auf die so genannte Telematik-Infrastruktur 2.0 umzurüsten. Die gerade installierten Extrageräte werden damit obsolet, weil die Funktionen künftig ganz normal über das Internet zur Verfügung stehen sollen. Der Nutzen hingegen hält sich für Mediziner:innen bisher in Grenzen.
Ebenso fehlt es in der Umsetzung an finanziellen Anreizen für Mediziner:innen. Ein Beispiel ist die Telemedizin: Aktuell verdienen Ärzt:innen im Schnitt damit weniger als bei einer physischen Behandlung vor Ort. Zudem wurden Höchstgrenzen von 30 Prozent in der telemedizinischen Behandlung eingeführt. Aus Sicht des medizinischen Personals bedeuten digitale Anwendungen immer noch einen höheren Aufwand ohne Vorteile. Wen wundert es also, dass Ärzt:innen vom jetzigen Verlauf der Digitalisierung nicht gerade begeistert sind und ihr gegebenenfalls sogar ablehnend gegenüberstehen?
Digitalisierung ja – aber mit Aufklärung und Verständnis
Mehrwert entsteht aber auch auf andere Weise. In Gesprächen mit niedergelassenen Ärzt:innen wird immer wieder deutlich, wie wichtig ihnen ein funktionierendes Gesundheitssystem und die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung über ihren eigenen Beruf hinaus ist.
Kaum jemand scheint sich dem drohenden Ärzt:innenmangel und Fachpersonalmangel im Gesundheitswesen wirklich bewusst zu sein oder sein zu wollen. In den nächsten Jahren wird ein Großteil der ambulant praktizierenden Ärzt:innen in den Ruhestand gehen, laut Bundesarztregister sind knapp 70 Prozent bereits schon jetzt über 50 Jahre alt. Die hausärztliche Medizin trifft es besonders schwer: 36 Prozent der Mediziner:innen sind über 60 Jahre alt. Gleichzeitig altert auch die Bevölkerung und der Anteil chronischer Erkrankungen nimmt zu. Damit entsteht in den kommenden Jahren eine Versorgungslücke, für die die bisher praktizierte „Vogel-Strauß-Taktik“ keine nachhaltige Lösung darstellt.
Die Realität vor allem in den Hausarztpraxen auch in Verbindung mit COVID-19 macht eine patientenzentrierte Versorgung bereits jetzt schon fast unmöglich. Aufnahme-Stopps von Neupatient:innen und Arbeitsanforderungen unter großer körperlicher und psychischer Belastung sind die Regel. Kurz: Die Gesundheitsversorgung wird sowohl für Mediziner:innen in absehbarer Zeit nicht mehr tragbar sein.
Digitalisierung als Mittel zum Zweck
Und nun stellt sich die Frage, wie diese große Herausforderung mit Digitalisierung gelöst werden kann? Wir benötigen politische Führung, die die Digitalisierung fördert und in angemessenem Umfang fordert. Es muss eine Vision mit klarem Weg der Zielerreichung ausgestaltet und eine klare Nutzenkommunikation etabliert werden, die alle Akteure in den Change-Prozess einbezieht. Die „Patient-Journey“ muss hybrid gedacht werden und zeitgleich muss das Arbeitsumfeld von Ärzt:innen ebenfalls in das 21. Jahrhundert befördert und dafür „digital“ gedacht und ausgestaltet werden. Gerade hier sind digitale Lösungen und ihre enge Verknüpfung mit dem physischen Praxisalltag eine gute Möglichkeit, um das hohe Patient:innenaufkommen zu stemmen und eine gleichbleibend hohe Qualität in der medizinischen Behandlung zu gewährleisten.
Eine beispielsweise hybride medizinische Versorgung, in welcher der Patient zunächst digital behandelt und nur bei Bedarf physisch einbestellt wird – entlastet nicht nur Praxen, sondern auch die Notaufnahmen von Krankenhäusern, indem zum Beispiel Personen mit Bagatellerkrankungen effizient digital versorgt werden können. Auf diese Weise angepackt, kann der flächendeckende Einsatz der richtigen digitalen Lösungen nicht nur viel Geld sparen – bis zu 4,4 Milliarden Euro allein durch Telemedizin beziffert McKinsey das Einsparpotential –, sondern für Ärzt:innen neue, attraktive Arbeitsbedingungen schaffen, die das Berufsfeld für den Nachwuchs wieder anziehender gestalten können.
Statt Ärzt:innen in die Ecke der Digitalisierungsfeinde zu stellen und mit Druck von oben einen Wandel zu erzwingen, sollten wir die für sie wichtigen Vorteile herausstellen. Fortschritt kann nur durch Akzeptanz geschehen, und diese Akzeptanz muss geschaffen werden, vor allem bei den Akteuren, die die medizinische Versorgung jeden Tag in ihren Praxen leben.
Susanne Patricia Kreimer ist Ärztin und Gründerin mit langjähriger Managementerfahrung im Bereich Digital Health. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre an der WHU in Vallendar und Humanmedizin an der Charité in Berlin. Seit Frühjahr 2021 ist Susanne Kreimer Geschäftsführerin und Chief Medical Officer von Doktor.de, Tochter des nach eigener Aussage größten Anbieters für eine hybride medizinische Gesundheitsversorgung in Europa, Doktor.se.