Nichts ist wichtiger als die Gesundheit. Trotzdem wird das deutsche Gesundheitswesen nur schleppend modernisiert. Dabei hätte gerade die Digitalisierung großes Potenzial, um eine zukunftssichere Versorgung zu etablieren und bestehende Probleme zu lösen. Stattdessen grassiert eine regelrechte Digitalisierungs-Müdigkeit. Doch Atempausen können wir uns nicht leisten.
Es ist begrüßenswert, dass gerade an vielen Fronten – am besten an allen gleichzeitig – digitalisiert wird. Das ist gut und richtig, wenn wir unser Gesundheitssystem zukunftsfähig machen und international wettbewerbsfähig bleiben wollen. Die neue Bundesregierung wird diesen Kurs weiter vorantreiben.
Wo drückt der Kittel?
Umso überraschender erscheinen da aber die plötzlich aufflammenden Diskussionen und Zwischentöne aus der Ärzteschaft, die auf dem Deutschen Ärztetag lauthals eine Digitalisierungspause fordern. Nun könnte man dafür, unter dem Eindruck der unkoordinierten Einführung einer Telematikinfrastruktur, noch Verständnis zeigen. Doch wenn selbst der scheidende Gesundheitsminister Jens Spahn in einem vor kurzem veröffentlichten Interview zu dem Schluss kommt, manchen Ärzten sei die Digitalisierung einfach zu anstrengend, dann wird aus Überraschung Irritation. Und dann drängen sich folgende Fragen auf:
Brauchen wir nicht eigentlich mehr Digitalisierung? Sind diese Einwände vielleicht berechtigt? Wo drückt der Kittel? Und: Können wir uns überhaupt eine Pause leisten?
Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein, können wir nicht. Wer pausiert, wird abgehängt.
Digital Natives in den Startlöchern
Aber beginnen wir am Anfang: Zunächst muss man sich fragen, ob der, der am lautesten schreit, auch wirklich immer Recht hat? Wohl kaum. Aber ein Teil der deutschen Ärzteschaft, insbesondere im ambulanten Bereich, geht im Schnitt auf den wohlverdienten Ruhestand zu. Fünf Jahre vor Schluss will sich natürlich keiner mehr mit den Vorgaben zur Digitalisierung der eigenen Praxis beschäftigen. Das ist verständlich, aber nicht nachvollziehbar.
Aber noch sind Hopfen und Malz nicht verloren, denn es gibt eben auch viele junge Ärzte, die jedes neue Softwaretool willkommen heißen. Das brauchen wir: weniger Hin und Her, mehr Klarheit und mehr laute Töne der jungen Generation. Das heißt aber auch: Wir brauchen ein offenes Ohr. Immerhin sind wir spätestens im Alter alle auf eine optimale medizinische Versorgung angewiesen – ob wir wollen oder nicht.
Klar ist, wir haben großen Nachholbedarf. Der Startschuss ist gefallen und wir binden uns noch die Schuhe. Da machen auch vier Jahre Spahn`sche Brechstange keinen Unterschied. Aber ja, Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind internationales Vorbild und die Telemedizin auf einem guten Weg. Was fehlt, ist nach wie vor die Infrastruktur – E-Rezept, Patientenakte und Interoperabilität. Dafür brauchen wir Ja-Sager, dafür brauchen wir Mut und ein klares Zielbild.
Digitalisieren mit Zuckerbrot und Peitsche
Damit mehr Ärzte Ja als Nein sagen, müssen wir es schaffen alle mitzunehmen – nicht nur diejenigen, die ohnehin digital affin sind. Das heißt, wir müssen verstehen, wer wieso nicht mit digitalisieren will. Im nächsten Schritt geht es dann darum, Dinge von oben nach unten auch mal konsequent durchzusetzen. Wir können es uns nicht leisten auf jeder Ebene, zum Beispiel bei den Ländern, Kammern oder Datenschutzbehörden, medizinische Extrawürste zu verteilen. Nur auf diese Weise erreichen wir schnell eine deutsche und im nächsten Schritt eine adäquate europäische digitale Infrastruktur. Das mag auch mal ein paar Jahre weh tun, aber dann wird es keiner mehr missen wollen. Diese Wachstumsschmerzen sollten wir jetzt in Kauf nehmen. Erst wenn das geschehen ist, können sich Innovationen richtig entfalten.
Das Gebot der Stunde lautet daher: Kooperationen und Mutige vor. Die letzte Regierung hat im Bereich Digitalisierung viele wichtige und erfolgreiche Schritte nach vorne gemacht. Darauf muss die Ampelkoalition aufbauen. Insoweit ist der Gesundheitsbereich sicherlich dem ein oder anderen Ressort bei der Digitalisierung davon gelaufen. Das ist eine gute Nachricht. So kann es weitergehen. Wir müssen auch einmal alte Gewohnheiten brechen und von Grund aus neu denken – vor allem vom Patienten und ihn in den Mittelpunkt stellen. Dann schaffen wir das. Wir stehen bereit.
Christian Weiss ist General Partner von Europas einzigem reinen HealthTech VC Heal Capital, in welchen die privaten Krankenversicherer mehr als 100 Millionen Euro investiert haben. Zuvor war er Partner bei Creathor Ventures und für die Unternehmensberatungen McKinsey & Company sowie AlixPartners tätig, wo er sich mit der Wertschöpfung von Technologieunternehmen im Private-Equity-Bereich beschäftigte.