In der Medizin nimmt die Onkologie beim Thema Innovation eine Vorreiterrolle ein. Noch vor 20 Jahren wurde bei fast jeder Krebserkrankung als Einheitsbehandlung eine Chemotherapie durchgeführt. Heute stehen immer häufiger die einzelnen Patient:innen im Zentrum der Behandlung. Diese Präzisionsonkologie zieht für Onkolog:innen aber auch komplexere Entscheidungsprozesse nach sich. Technologische Innovationen und eine gute Zusammenarbeit mit der Pharmabranche sind eine Lösung für diese Herausforderung.
In den nächsten fünf bis zehn Jahren sind in der Onkologie unzählige neue hochpräzise Medikamente und Behandlungsansätze im Bereich Zell- und Gentherapie zu erwarten. Diese Innovationen bringen die vorhandenen Infrastrukturen an ihre Grenzen. Während Onkolog:innen in spezialisierten Krankenhäusern oder Universitätskliniken Zugang zu den neuesten innovativen Technologien und Therapien haben, ist dies bei Fachpersonen in ländlichen Gebieten nicht der Fall. Für diese „Community Oncologists“ ist es schwierig, die neuen Komplexitäten in der Krebsbehandlung zu verstehen, den Überblick über die Fortschritte zu behalten und basierend auf diesen Erkenntnissen guten Gewissens die richtige Behandlung für ihre Patient:innen zu wählen.
Gespräche mit Onkolog:innen außerhalb eines spezialisierten oder universitären Umfelds bestätigen diese Problematik: Sie sehen die Hauptherausforderung im Treffen einer Therapieentscheidung basierend auf dem letzten Stand der Wissenschaft. Hinzu kommt, dass Patient:innen in ländlichen Gebieten nicht immer dazu bereit sind, lange Reisewege für eine Behandlung in der nächstgelegenen Universitätsklinik auf sich zu nehmen. Krebsbehandlungen dürfen nicht vom Wohnort der Patient:innen oder vom Praxisstandort der Onkolog:innen abhängig sein. Stattdessen sollten Innovationen Onkolog:innen und Patient:innen dazu befähigen, auf einfachem Weg wichtige Therapieentscheidungen standortunabhängig treffen zu können.
Verschiedene innovative Ansätze
Diese Herausforderungen können durch verschiedene innovative Lösungen adressiert werden. So existieren z.B. Peer-to-Peer-Netzwerke, in denen sich Onkolog:innen in einem virtuellen, formalisierten Umfeld gegenseitig Fragen stellen und beantworten können. Accenture hat bereits ein solches Netzwerk für ein Pharmaunternehmen entwickelt. Während dies auf kleiner Ebene gut funktioniert, besteht die aktuelle Herausforderung darin, wie ein solches Netzwerk landesweit oder sogar international skaliert werden kann.
Skalierbare Lösungen gibt es auch bei den Tumorboards, zu welchen heute oft nur Onkolog:innen in großen Kliniken oder Zentren Zugang haben. Dies muss sich in Zukunft ändern. Ein virtuelles Set-up würde Tumorboards allen Onkolog:innen im ganzen Land oder sogar international zugänglich machen. Accenture unterstützt deshalb Unternehmen dabei, Tumorboards auf der ganzen Welt zu organisieren.
Datenbanken noch nicht ausgereift
Eine gut strukturierte und standardisierte Datenbank, die alle verfügbaren Daten von Krebspatient:innen enthält, stellt eine weitere Komplexitätsreduktion dar. In einer solchen Datenbank könnten Onkolog:innen ihre Patient:innen mit den Dossiers anderer Krebsbetroffener in anonymisierter Form vergleichen, nach ähnlichen Fällen suchen sowie die Behandlungen mit anderen Onkolog:innen besprechen. Stand heute sind solche Datenbanken aufgrund der zu wenig umfassenden Daten in elektronischen Krankenakten noch nicht ausgereift. In Zukunft können sie den Entscheidungsprozess von Onkolog:innen aber maßgeblich bereichern.
Schließlich wird auch der Clinical Decision Support (CDS) eine zusätzliche Entscheidungshilfe bieten. Basierend auf Daten schlagen Algorithmen Medikamente und Therapien für die Behandlung vor, wodurch Onkolog:innen schneller evidenzbasierte Entscheidungen treffen können. Dies ermöglicht es den Community Oncologists, ihre Patient:innen länger in ihrem gewohnten Umfeld zu behandeln, bevor eine Überweisung in eine Klinik erforderlich wird. Während solche Systeme momentan vor allem von Start-ups weiterentwickelt werden – auch unter Einbezug von Künstlicher Intelligenz – gehören sie noch nicht zur Routine von Onkolog:innen. Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis der CDS die treibende Kraft im Entscheidungsprozess von Onkolog:innen wird.
Bedürfnisse von Onkolog:innen und Patient:innen
Eine personalisiertere Arbeitsweise gehört neben einer einfacheren Entscheidungsfindung und einer Komplexitätsreduktion im Alltag zu den Hauptbedürfnissen von Onkolog:innen. Patientenzentrierte und personalisierte digitale Lösungen werden das Leben von Onkolog:innen in dieser Hinsicht erheblich erleichtern. So können sie in Zukunft schnell relevante und personalisierte – nicht generische – Informationen für ihre jeweiligen Patient:innen zusammentragen. Onkolog:innen wünschen sich außerdem personalisiertere Interaktionen mit den Pharmaunternehmen, so dass auch konkrete Fälle und Patient:innen mit den Pharmaexpert:innen besprochen werden können.
Auch Krebspatient:innen haben spezifische Bedürfnisse, die in dieser Diskussion nicht vergessen werden dürfen. Im Rahmen des neuen Onkologie Experience Reports hat Accenture mehr als 1.200 Krebspatient:innen zu ihren Bedürfnissen und größten Herausforderungen befragt. Die meisten wünschen sich einen besseren Zugang zu personalisierten und fundierten Informationen und möchten mehr in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Die Befragung hat außerdem das Bedürfnis nach einem holistischen Ansatz aufgezeigt. So wünschen sich gerade jüngere Krebspatient:innen einen besseren emotionalen Support, mehr Beratung zum Thema Ernährung sowie Unterstützung bei der Planung ihrer Behandlungen (Organisation von Babysitting oder ähnliches). Die Industrie könnte bei all diesen Bedürfnissen eine größere Rolle spielen als es heute der Fall ist. So könnten zum Beispiel ehemalige Krebsbetroffene zu Coaches ausgebildet werden, die die Krebspatient:innen auf ihrem Weg begleiten und unterstützen.
Es besteht viel Potenzial, wie die Bedürfnisse von Onkolog:innen und Patient:innen adressiert werden können. Die Pharmabranche kann dabei einen entscheidenden Beitrag leisten, indem sie z.B. die dafür nötige Infrastruktur mitfinanziert. Schlussendlich sollten einige wenige Tools in der Lage sein, die komplexen Entscheidungsprozesse von Onkolog:innen überall auf der Welt zu erleichtern. Nur so profitieren Patient:innen, Onkolog:innen und Unternehmen von der Digitalisierung in der Onkologie.
Boris Bogdan ist Managing Director bei Accenture.