Im Oktober 2020 jährt sich zum vierten Mal ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die Apothekenlandschaft erschüttert hat: Danach sind ausländische Arzneimittelversender anders als Präsenzapotheken in Deutschland nicht mehr an Festpreise für verschreibungspflichtige Arzneimittel gebunden. Das Urteil hat die Spielregeln, unter denen der Gesetzgeber den Versand von rezeptpflichtigen Medikamenten 2004 erlaubt hatte, außer Kraft gesetzt und eine schwere Wettbewerbsschieflage zulasten der Apotheken vor Ort ausgelöst. Als wohnortnahe Vollversorger mit zahlreichen Gemeinwohlpflichten können sie einem Preiskampf mit Aktiengesellschaften, die Arzneimittelversorgung als reines Logistikgeschäft mit Skaleneffekten und reduziertem Leistungsangebot von jenseits der grünen Grenze betreiben, nicht standhalten – zumindest dann nicht mehr, wenn er neben rezeptfreien Produkten auch verordnete Medikamente betrifft, die den betriebswirtschaftliche Backbone einer Apotheke bilden.
Der damalige CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe adressierte die aus dem Urteil erwachsenden Risiken für die flächendeckende Versorgung sofort und brachte noch vor Ende 2016 einen Gesetzentwurf auf den Weg. Die Folgen des Urteils sollten durch ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln geheilt werden, wie es in zwei Dritteln der EU-Staaten auch gilt. Diese auch von der Apothekerschaft favorisierte, weil konsequente Wiederherstellung der Festpreisbindung fand aber nicht die Zustimmung von SPD-Ressortkollegen und –Bundestagsabgeordneten, geriet nach dem Jahreswechsel 2016/2017 in die Mühlen des beginnenden Bundestagswahlkampfs und fiel dem Diskontinuitätsprinzip der Gesetzgebung zum Opfer.
Nach der Wahl und quälend langen Verhandlungen stand im Koalitionsvertrag 2018 dann der zwischen den neuen alten Koalitionären bis zuletzt umkämpfte Satz: „Wir stärken die Apotheken vor Ort: Einsatz für Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.“ Doch im Laufe weniger Monate wurde klar, dass Jens Spahn (CDU) als neuer Gesundheitsminister nicht an eine Mehrheit für die Verbotslösung glaubte. Er schlug stattdessen eine sozialrechtliche Regelung vor, die Festpreise zumindest für die Arzneimittelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) über das Sozialgesetzbuch (SGB V) wiederherstellen sollte. Nach zahlreichen harten Diskussionen folgte die Apothekerschaft zähneknirschend diesem Ansatz. Und tatsächlich nahm die Regelung im Juli 2019 über den Entwurf eines Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetzes (VOASG) die Kabinettshürde. Wieder aber bremsten hier vor allem SPD-geführte Ressorts und verlangten, dass vor der Zuleitung an den Bundestag bei der EU-Kommission hinsichtlich der Europarechtskonformität des Gesetzentwurfs sondiert werde. Seit über elf Monaten liegt er nun auf Halde, weil eine Rückmeldung der Kommission aussteht.
Veränderte Bedingungen
Zwischenzeitlich aber hat sich die Situation an zwei Punkten grundlegend geändert: Einerseits sehen wir der beschleunigten Einführung des E-Rezeptes Anfang 2022 entgegen, von dem sich die Versender einen enormen Wachstumsschub im Bereich verschreibungspflichtiger Medikamente erwarten, den die Möglichkeit zu Rabattschlachten noch weiter befeuern würde. Andererseits hat die Gesundheitspolitik im Zuge der Corona-Pandemie die eindrückliche Erfahrung gemacht, wie resilient und krisensicher eine dezentrale, feinkapillare und wohnortnahe Arzneimittelversorgung durch Vor-Ort-Apotheken im Ernstfall ist. Während die Versandlogistiker in die Knie gingen, blieben auch über den Höhepunkt der Virusausbreitung hinaus mehr als 99,8 Prozent der Präsenzapotheken am Netz, managten einen ungekannten Ansturm verunsicherter Patienten, fuhren zum Schutz von Risikopatienten ihre Botendienste hoch und stellten im großen Stil Desinfektionsmittel her, als industriell gefertigte Produkte nicht mehr lieferbar waren.
Zahllose Danksagungen von Politikern folgten. Das ist schön, nur auch für Apotheken gilt: Ein Dankeschön zahlt keine Rechnungen und schafft keine ordnungspolitische Sicherheit für die Zukunft. Regierung und Parlament müssen sich jetzt entscheiden, ob sie angesichts des ‚Game Changers‘ E-Rezept und der Pandemie-Erfahrung ein bewährtes Arzneimittelversorgungssystem sichern wollen, oder ob sie einem ungebremsten Wettbewerb mit schlussendlich fatalen Folgen zusehen wollen, die am Ende die Patienten treffen werden. Vor allem die SPD sollte dringend ihre Position zum VOASG überdenken: Entspricht es noch ihrer sozialen Idee, wenn internationale Aktiengesellschaften ohne Wertschöpfung im Inland gegenüber kleinunternehmerischen Strukturen mit 160.000 Arbeitsplätzen vor Ort bevorzugt werden? Wenn sich die Arzneimittelversorgung sukzessive aus der Fläche zurückziehen muss? Wenn sozial schwache und ältere Menschen keinen direkten Ansprechpartner für Gesundheitsfragen mehr vor Ort haben? Ich denke nicht.
Das VOASG muss – mit oder ohne Feedback der EU-Kommission – spätestens im zweiten Halbjahr 2020 durch den Bundestag verabschiedet werden. Sonst wird es wie 2017 Gröhes Gesetz erneut ein Opfer des Bundestagswahlkampfs. Für die Politik wäre das ein Armutszeugnis. Sie hätte ihr Vertrauen verspielt, nicht nur in der Apothekerschaft.