Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen schreitet rasch voran: Immer mehr Gesundheits-Apps kommen auf den Markt und digitale Therapieverfahren etablieren sich. Forschung, Diagnostik, Therapie und Versorgung werden durch die Digitalisierung präziser und effizienter. Auch die Beratung und Aufklärung von Patienten sowie präventive Maßnahmen können dadurch optimiert werden. So ist schließlich die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) im Januar 2021 beschlossene Sache – ein Meilenstein in der Versorgungsstruktur Deutschlands. Sie kann beispielsweise dabei helfen, unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden und ärztliche Entscheidungen – durch eine bessere Informationsbasis – für Patienten nachvollziehbarer als bisher zu machen.
Gleichzeitig ermöglicht eine intelligente digitale Vernetzung direkte Kommunikationswege zwischen unterschiedlichen medizinischen Fach- und Berufsgruppen, aber auch zwischen Kliniken und Praxen, Pflege- und Reha-Einrichtungen oder zwischen Stadt und Land. Bislang unüberbrückbare Grenzen können so überwunden werden. Versorgungsprozesse und die Versorgungssituation der Patienten werden dadurch erheblich verbessert, denn erst durch die digitale Vernetzung ist eine flächendeckende, sektorenübergreifende und interdisziplinäre Behandlung möglich.
Leitlinienbasierte Behandlung könnte Schäden vermeiden
Moderne Technologien und die digitale Datenerfassung bieten gerade für Menschen mit häufigen, chronischen und multimorbiden Erkrankungen – wie einem Diabetes mellitus – eine große Chance. Diese Stoffwechselerkrankung ist eine der großen Volkskrankheiten weltweit und in Deutschland sind inzwischen mehr als sieben Millionen Menschen von ihr betroffen. Jedes Jahr kommen etwa 500.000 neu Erkrankte hinzu. Im vergangenen Vierteljahrhundert ist die Zahl der Betroffenen um mehr als ein Drittel gestiegen. Nach neuesten Berechnungen erwarten wir bis 2040 hierzulande einen weiteren Anstieg auf bis zu 12 Millionen Menschen mit Diabetes. Besonders problematisch ist die hohe Dunkelziffer aufgrund der häufig spät gestellten Diagnose: Etwa 1,3 Millionen Erkrankte wissen nichts von ihrer Erkrankung.
Schlecht oder gar unbehandelt hat Diabetes dramatische Folgen. Zu den häufigsten Folgen gehören Herzinfarkt, Herzschwäche oder Schlaganfall. Jährlich werden aufgrund von Diabetesschäden etwa 40.000 Beine, Füße oder Zehen amputiert, rund 2.000 Menschen erblinden in Folge der Stoffwechselerkrankung. Diabetes ist außerdem die häufigste Ursache dafür, dass Menschen auf regelmäßige Blutwäsche, sprich Dialyse, angewiesen sind. Die Lebenserwartung und Lebensqualität der Patienten sind dadurch deutlich vermindert.
Umso wichtiger bei solch komplexen Erkrankungen ist eine standardisierte, auswertbare, leitlinien-basierte transsektorale Versorgung – unabhängig von jeweiligen Krankenkassen, Regionen, Ballungsgebieten oder der Arztdichte. Doch diese existiert in Deutschland noch nicht. Gleichzeitig entstehen Versorgungsdefizite hierzulande auch daraus, dass die erhobenen Daten von Patienten mit chronischen Krankheiten und hohem Risiko für Begleiterkrankungen nicht regelmäßig systematisch und flächendeckend (digital) ausgewertet werden (können).
Schnittstelle zwischen Fachakte und ePA ermöglicht auch Registernutzung
Sinnvolle Ergänzungen zur elektronischen Patientenakte können daher digitale Fachanwendungen sein. Sie können einerseits dabei helfen, auf spezielle Bedarfe von Patienten einzugehen und das jeweilige Krankheitsbild umfassend abzubilden sowie andererseits diese speziellen Krankheitsdaten systematisch zu erfassen und auszuwerten. Diese Anwendungen müssen natürlich mit der ePA „kommunizieren“ beziehungsweise interoperabel sein.
Ein erstes Beispiel hierfür ist die elektronische Diabetesakte (eDA), die von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) initiiert wurde. Die eDA soll die Daten aus der Versorgung direkt erfassen und helfen, leitlinienbasiert die Versorgung der Betroffenen zu gestalten. An die eDA angeschlossen ist ein Register, das alle in ihm erfassten Daten nutzbar für Forschung und Versorgung machen kann. Dies hilft dabei, automatisch einen „Versorgungsmonitor“ der Diabetologie in Deutschland zu erheben sowie ein umfassendes „nationales“ Diabetes-Register zu implementieren. In diesen Pool werden die klinischen Daten aus Krankenhaus, Praxis und aus Präventions-Programmen sowie klinischen Forschungsprogrammen eingespeist.
Durch Analysen von Datenmustern (Big Data) können auch neue Zusammenhänge, Subgruppen, klinische Verläufe und Therapieansätze erkannt werden. Prädiktive Modelle werden damit Risikopatienten frühzeitig und präzise erkennen. Behandelnde Ärzte können Patienten, die ganz besonders von einer Therapie- beziehungsweise Interventionsstrategie profitieren und welche nicht, deutlich besser identifizieren.
Ein weiterer Vorteil ist, dass Haus- und Fachärzten Differentialdiagnosen, medizinische Empfehlungen und Leitlinien zur Verfügung stehen, sodass eine sofortige „in time“-Handlungsempfehlung für den Patienten vorliegt und regelmäßig aktualisiert werden kann. Außerdem ist die aufbereitete Evidenz, also wissenschaftliche Literatur, zu dem Thema direkt für den behandelnden Arzt einsehbar.
Gesundheitspolitisch ermöglicht diese Datenaufbereitung eine tatsächliche bedarfs- und ergebnisorientierte Steuerung zum Wohle der Betroffenen und der Solidargemeinschaft. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist, dass die Daten in einer Struktur und Qualität abgelegt werden, die eine problemlose Lesbarkeit ermöglichen.
Dirk Müller-Wieland ist Past President der DDG. Seine Gesellschaft organisiert zusammen mit der Gematik das Expertenforum „Elektronische Patientenakte – ante portas“ am 30. September in Berlin. Es wird dabei auch um Perspektiven der elektronischen Patientenakte und der elektronischen Diabetesakte gehen.