Von verschiedenen Seiten wird derzeit vor dem Entstehen einer Zwei-Klassen Gesellschaft durch den Impffortschritt gewarnt. Diese Warnung ist aber naiv, denn Tatsache ist doch, dass uns jeder Tag der Impfkampagne dieser zwei Klassen-Gesellschaft faktisch näherbringt. Trotz aller Verzögerungen beim Impfstart haben beim Erscheinen dieses Textes rund zwei Millionen Menschen bereits einen vollständigen Impfschutz, die meisten davon sind ältere Menschen und häufig aus Pflegeeinrichtungen, die bislang durch die erzwungene Vereinsamung besonders unter der Pandemie gelitten haben. Wir müssen jetzt darauf achten, dass den geimpften Alten baldmöglichst ein sozialer Umgang ermöglicht wird, wie sie ihn vor der Pandemie hatten. Sie dürfen wieder umarmt werden.
Die Dynamik der Impfung wird jedoch weiter zunehmen und zunehmend werden künftig neben systemrelevanten Zielgruppen auch jüngere Menschen geimpft. Kurzum: Im Verlauf des Sommers dürfte mindestens die Hälfte der Bevölkerung geimpft sein. Und somit ist die befürchtete Zwei-Klassen-Gesellschaft nichts, was zu verhindern ist. Sie wird zur Realität werden.
Statt also einen nicht aufzuhaltenden Zustand zu beklagen oder gar zu verschweigen, ist es jetzt Aufgabe der Politik, diese Situation mit ihren absehbaren Konflikten politisch zu lösen. Denn eines dürfte doch klar sein: Wenn es keine Leitplanken der Politik gibt, wird die gesellschaftliche Behandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften weitgehend den kalten Gesetzen des Marktes überlassen. Bereits heute eruiert Israel bilaterale Abkommen für Flugreisen mit anderen, in der Impfung weit fortgeschrittenen Ländern.
Ansprüche ausbalancieren, Gerechtigkeit herstellen
Aktuell kursieren Ideen, in bestimmten Regionen geimpften Menschen per Bändchen Zutritt in ausgewählte Geschäfte zu erlauben – und damit im Umkehrschluss alle anderen auszusperren. Jeder Wirt, jeder Konzertveranstalter mit Hausrecht wird für sich Lösungen finden wollen, um schnellstmöglich wieder Umsatz zu generieren. Und dies wird explizit auch eine Bevorzugung von Geimpften bedeuteten, in welcher Form auch immer.
Kurzum: Wir müssen einen politischen Rahmen und in die Zukunft reichende Regularien schaffen, um mit dieser Dynamik umzugehen, die Ansprüche und Rechte von Geimpften und Nicht-Geimpften auszubalancieren und letztlich Gerechtigkeit herzustellen.
Dieser Weg kann für mich nur lauten, den Geimpften ihre Grundrechte zeitnah wieder zurückzugeben. Dies ist kein Gnadenakt, sondern die Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Zustands. Davon profitieren werden neben den erwähnten Risikogruppen vor allem die Beschäftigten im medizinischen Dienst sowie die in systemrelevanten Bereichen. Alle diese Gruppen haben mit großem und größtem persönlichem Einsatz dafür gesorgt, im Dienst der Gesellschaft die Pandemie zu bewältigen. Sie werden auch weiterhin dringend gebraucht und stehen daher zurecht am Beginn der Impfkampagne.
Ablauf der Impfkampagne ist gerecht und nachvollziehbar
Für alle weiteren Gruppen gilt, dass sie sich entsprechend den Vorgaben der Ständigen Impfkommission „virtuell“ anstellen müssen. Ich sehe darin absolut keine Gerechtigkeitslücke, im Gegenteil: Dieses Verfahren ist gerecht, transparent und nachvollziehbar. Alles, was wir für diese logische Reihenfolge brauchen, ist Geduld und gesellschaftliche Solidarität, die wir sicherlich aufbringen werden. Wir können und sollten also allen bereits Geimpften diesen „Vorsprung“ und dieses Privileg gönnen und uns gleichzeitig darüber freuen, dass durch sie auch „unsere“ Gastwirte und Künstler finanziell unterstützt werden. Zudem ist ja auch durchaus denkbar, durch Schnelltests, die bald hoffentlich tatsächlich in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, auch Nicht-Geimpfte zumindest temporär zum Beispiel für einen Restaurant- oder Konzertbesuch in den Rang eines Geimpften zu heben.
Wenn dann spätestens bis zum Herbst alle Impfbereiten auch tatsächlich geimpft worden sind, ergibt sich das gesellschaftlich womöglich größere und dauerhaftere Problem, wenn es nach Abschluss der Kampagne noch einen relevanten Anteil von Impfverweigerern oder nicht Impffähigen geben wird. Auch hier sind Lösungsmodelle der Politik gefordert. Denn ansonsten steht zu befürchten, dass diese Personengruppen langfristig benachteiligt, vielleicht sogar ausgeschlossen und stigmatisiert werden.
Die heraufziehende Problemstellung ist groß, aber nicht unlösbar. Sie muss bereits jetzt in Ruhe und alle Argumente abwägend geklärt werden und nicht erst, wenn der Handlungsdruck unerträglich geworden ist. In Ruhe bedeutet auch, dass es sich verbietet, diese hochsensible Thematik zu Wahlkampfzwecken auszunutzen und ohnehin verunsicherte Bürgerinnen und Bürger zu polarisieren.
Professor Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen.