In Deutschland zeigen sich verstärkt ideologische und affektive Polarisierungen im Zusammenhang mit Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, sexueller Identität, politischer Anschauungen oder Herkunft. Schlagwörter wie „Remigration“ oder „irregulärer“ Migration haben mittlerweile Einzug in den medialen und parlamentarischen Diskurs gefunden und verstärken die politische Polarisierung. Außerdem wirkt eine schleichende parteiische Einflussnahme auf Wissenschaft und Gesundheitsbehörden ein.
Neben dem Problem der Aufweichung der Gewaltenteilung stellt sich die Frage, wie viel Fachlichkeit und Autonomie noch bleibt, wenn politische Interessen zunehmend wissenschaftliche Entscheidungen lenken. Ein Exempel sind die vielen Interventionen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf die Risikoeinschätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) – und das gerade vor dem Hintergrund eines Gesundheitsministers, der für eine sogenannte ‚evidenz-geleitete‘ Gesundheitspolitik eintrat.
Wie gut sind also Gesundheitsämter gegen politische Polarisierung und Einflussnahme gewappnet? Die Pandemie hat hier deutliche Lücken aufgedeckt, nicht zuletzt durch eine große Anzahl an Abgängen ärztlicher Leitungen in Gesundheitsämtern – oft zugunsten fachfremder Kräfte.
Zwischen historischer Schuld und ärztlicher Verantwortung heute
Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Gesundheitsämter gleichgeschaltet und einer zentralen Struktur überführt, die bis heute noch besteht. Nicht wenige Amtsärzte verstanden sich als Hüter der Volksgesundheit und leisteten einen unentschuldbaren Beitrag zur Umsetzung der NS-Ideologie – eine geschichtliche Last, die bis heute wenig in Gesundheitsämtern reflektiert und erinnert wird.
Jeder Form der Diskriminierung, sei es nach Ethnie, Glaube, Sexualität oder anderen Merkmalen wie politischer Einstellung, müssen Amtsärztinnen entschlossen entgegentreten, verankert in der ärztlichen Berufsordnung, der Genfer Deklaration für Ärztinnen und Ärzte sowie im Grundgesetz. Die Genfer Deklaration stellt ganz explizit auf das humanistische Menschenbild und die besondere Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten für den Schutz ihrer Patient*innen auch über deren Tod hinaus ab.
Gesundheitsämter und die Pandemie
Gesundheitsämter sind in Deutschland durch die Gesundheitsdienstgesetze der Länder verpflichtet, medizinisch geleitet zu werden – zumindest auf dem Papier. Doch im Schatten der Pandemie kam eine andere Entwicklung zum Tragen: In mehreren Gesundheitsämtern, darunter Hannover, Düsseldorf und Dresden, wurden ärztliche Leitungen während der Pandemie abgesetzt oder ausgetauscht. In einzelnen Ländern wie Sachsen, Hessen oder Bremen wurden die Gesundheitsdienstgesetze soweit verändert, dass für die Leitung beziehungsweise Stellvertretungen keine medizinische Qualifikation mehr erforderlich ist. Das bedeutet, dass einige Gesundheitsämter, die nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz als medizinische Einrichtungen vergleichbar zu Krankenhäusern gelten, nicht mehr von Ärzt*innen sondern von Fachfremden Jurist*innen oder Verwaltungswirt*innen geleitet werden.
Solche Hilfskonstrukte stehen tatsächlich in Konflikt mit der ärztlichen Berufsordnung, die eine Weisungsunabhängigkeit von Ärzt*innen vorsieht. Zudem kosten solche Bedarfslösungen Vertrauen der Bürger in Gesundheitsbehörden. Auch die Diskussion über die politische Einflussnahme des BMG auf fachliche Empfehlungen des RKI und der Ständigen Impfkommission (Stiko) beeinträchtigt das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden.
Parteiische Eingriffe auf ärztliche Entscheidungen sind nicht demokratisch legitimiert und befeuern die Polarisierung sogar noch. Vor dem Hintergrund des Wahlausgangs in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sehen wir spätestens jetzt einen dringenden Handlungsbedarf für die öffentliche Gesundheit.
Ziel muss sein, die Unabhängigkeit der Ärzt*innen in den Gesundheitsämtern nicht nur weisungsrechtlich, sondern auch organisatorisch sicherzustellen. Individual- und bevölkerungsmedizinische Entscheidungen von Ärzt*innen in den Gesundheitsämtern müssen gegenüber politischer Polarisierung resilient gemacht werden, um die gesundheitliche Daseinsvorsorge und Inklusion für alle Menschen in gleicher Weise sicherzustellen.
Fremdkörper in der öffentlichen Verwaltung: Gesundheitsämter
Derzeit sind die in den 383 Gesundheitsämtern tätigen Ärztinnen und Ärzten dienstrechtlich in der kommunalen Verwaltung verankert. Damit sind sie unmittelbar weisungsgebunden von Entscheidungen ihrer politischen Vorgesetzten. Dies ist der Fall, obwohl Gesundheitsämter auch als kommunale Behörden normativ nach dem Infektionsschutzgesetz als medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser, Arztpraxen oder Universitätskliniken definiert sind. In der Konsequenz haben Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Entwicklung fachärztlicher Qualität und Transparenz im Vergleich zur Ärzteschaft in Krankenhäusern und Arztpraxen.
Um diese organisatorischen Nachteile zu beheben, empfehlen wir, die Gesundheitsämter aus der reinen kommunalen Verwaltungsstruktur herauszulösen und organisatorisch stärker an den Strukturen der ambulanten und stationären ärztlichen Versorgung auszurichten. Naheliegend ist, Gesundheitsämter zum Beispiel in Körperschaften des öffentlichen Rechts zu überführen. Damit bleiben Gesundheitsämter weiterhin vollziehende Staatsverwaltung, allerdings in einem anderem Distanzverhältnis.
Besteht dadurch ein Verlust demokratischer Kontrolle und Durchgriffsrechte? Nein, und das in zweifacher Hinsicht. Denn erstens werden Körperschaften durch einen Verwaltungsrat und Landesministerien kontrolliert. Und zweitens sind Körperschaften des öffentlichen Rechts Teil der Staatsverwaltung, nur mit dem Unterschied, dass sie sich selbst verwalten. Und hier hat das deutsche Gesundheitssystem tatsächlich langjährige Erfahrungen: So sind Krankenkassen, Krankenhäuser, Universitätskliniken, der Medizinische Dienst oder die Landesärztekammern allesamt als Körperschaften organisiert. Tatsächlich sind es allein die Gesundheitsämter, die im Gesundheitssystem nicht selbstverwaltet sind.
Gesundheitsämter als Körperschaften
Organisatorisch ist ein Wechsel möglich: Die Universitätskliniken haben den Change zu Körperschaften vor 20 Jahren vollzogen, der Medizinische Dienst erst 2021. Und der Demokratie in unserem Land hat dies nicht geschadet. Im Gegenteil: Die Organisationsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts als mittelbare Staatsverwaltung erlaubt einerseits eine effiziente Erfüllung hoheitlicher ärztlicher und gesundheitswissenschaftlicher Aufgaben. Andererseits obliegt dieser Organisationsform eine selbstverwalterische Verantwortung, die unabhängig von direkten, politischen Vorgaben ausgeübt wird.
In dieser Organisationsform lassen sich ärztlich-medizinische Engpässe im ländlichen Raum und Kommunen schneller und zielorientierter lösen, während sich die öffentliche Verwaltung im Zuständigkeitspingpong verzettelt. Auch personelle und technische Hilfen über Stadt- und Landkreisgrenzen hinaus lassen sich effektiver realisieren, während die öffentlichen schwerfällig an den Zuständigkeitsgrenzen verharrt. Und spätestens in der Pandemie haben wir gelernt, Viren kümmert dies nicht. Für einen Verwaltungsrat wären neben den Kommunal- und Landesvertretern des jeweiligen Bundeslandes auch Landesärztekammern, Bundesinstitutionen, wie dem RKI und Vertreter der Zivilgesellschaft und von Patientenorganisationen denkbar.
Politische Polarisierung und ethische Verantwortung
Die Gesundheit der Bevölkerung muss in Deutschland unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Identität, Alter, dem Vorliegen chronischer Erkrankungen und Behinderungen, Religion, Hautfarbe, politischer Einstellung oder Versicherungsstatus jederzeit geschützt werden. An diesem ethischen Maßstab müssen sich die Ärzt*innen in Gesundheitsämtern angesichts ihrer historischen Verantwortung messen lassen. Eine ethische Krisenvorsorge der Gesundheitsämter ist angesichts der unheilvollen Vergangenheit, der in Gesundheitsämtern ausgebliebenen Strukturreformen und der jüngsten politischen Entwicklungen längst überfällig.
Neben sozialen Determinanten sind es nämlich gerade politische Polarisierungen, die einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Gesundheit haben. Ein ‚Nie wieder‘ darf weder Lippenbekenntnis sein noch die Verantwortung allein auf Individuen abwälzen. Es sind Organisationsstrukturen, die sich als Schwachstellen in Gesundheitsämtern offenbarten. Daher bedarf es Reparaturen ebendieser Organisationsstrukturen. Eine Lehre aus der Pandemie wäre es tatsächlich, Gesundheitsämter ethisch krisensicher zu machen.
Alexandra Roth ist Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Lübeck. René Gottschalk ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin. Der Mitarutor des Beitrags Frank Kunitz ist Amtsarzt im Gesundheitsamt Teltow-Fläming und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin. Nicolai Savaskan, weiterer Mitautor, ist Amtsarzt im Gesundheitsamt Berlin-Neukölln und Vorstandsmitglied des Verbands der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst Brandenburg-Berlin.