Derzeit steht in den Sternen, ob und in welcher Weise auch der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) im ÖGD, und damit die Kinder hierzulande von dem großen Milliardenkuchen des Bundes, etwas abbekommen werden. Man muss aktuell eher davon ausgehen, dass von den mehreren tausend neuen Stellen im ÖGD insbesondere die Gesundheitsaufsicht, der Bereich Infektionsschutz sowie der Bereich Infektions- und umweltbezogener Gesundheitsschutz profitieren werden. Nach den Erfahrungen in der Pandemie durchaus nachvollziehbar. Zugleich befürchtet jedoch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), dass die Gesundheitsbelange von Kindern ein weiteres Mal außen vor bleiben.
Das wäre aber das völlig falsche Signal! Aus sozialpädiatrischer Sicht muss vor allem die Öffentliche Kindergesundheit gestärkt werden, weil der KJGD künftig nur dann seinen – durch die Pandemiefolgen noch bedeutsameren – Aufgaben nachkommen kann. Derzeit kann der KJGD den Anforderungen kaum gerecht werden, für die er eingerichtet und qualifiziert ist, sagt auch Ulrike Horacek, Vorstandsmitglied der DGSPJ. Von unschätzbarem Wert ist der KJGD allein schon deshalb, weil er – wie niemand sonst – auch im Längsschnitt Daten zur Kindergesundheit (standardisierte Einschulungsuntersuchung, regionale 6. und 8. Klassen-Untersuchung etwa) erhebt; damit können Versorgungslücken und Fehlentwicklungen überhaupt erst verifiziert werden. Diese Daten werden dann den Kommunen und Ländern für ihre Gesundheitsplanung zur Verfügung gestellt und sind elementare Datenbasis für politisches Handeln.
Daraus resultieren dann längst überfällige Forderungen wie die Einführung eines Schulfachs „Gesundheit und Nachhaltigkeit“ (Gesundheits- und Sozialkompetenz) in allen Schulformen, wie es auch der Deutsche Ärztetag jüngst in ähnlicher Weise gefordert hat. Bei der Vermittlung der entsprechenden Inhalte kann der KJGD mit seiner Expertise wirksam unterstützen und z.B. auf Materialien und Tools aufsetzen, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erarbeitet hat.
Wann kommen die Schulgesundheits-Fachkräfte?
Umgesetzt werden könnte die „Gute Gesunde Schule“ von Schulgesundheits-Fachkräften (SGFK). Das würde auch zu den Präventionsvorstellungen der Bundesregierung passen. Denn gemäß Präventionsgesetz sollen künftig vermehrt Ansätze verfolgt werden, die nicht nur zeitlich begrenzt zum Einsatz kommen, sondern nachhaltig und systemisch wirken. Genau hier setzt die SGFK an. Sie wirkt als Teil eines interprofessionellen Teams aus Schulpsycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Mental Health Coaches nicht nur nach innen auf ALLE in der Schule Lehrenden und Lernenden, sondern auch nach außen in der Vernetzung mit anderen kommunalen Strukturen. Dazu gehören zum Beispiel niedergelassene Kinder- und weitere Fachärzt:innen, Psychologische Dienste, Jugendhilfe, (Sucht-)Beratungsstellen, Sportvereine und vieles mehr. Ein gestärkter KJGD wäre hier das Bindeglied in einem solchen Netzwerk.
Die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste, bei denen die Schulgesundheitsfachkraft angesiedelt sein sollte, und die in der Pandemie häufig fachfremde Aufgaben übernehmen mussten, sollten künftig wieder stärker ihre originären (sozialkompensatorischen) Aufgaben wahrnehmen. Dies kann eingebettet in ein Konzept von Schulgesundheitspflege erfolgen, zum Beispiel mit intensivierten Untersuchungen und Beratungen von Schulkindern und Eltern im vierten und neunten Schuljahr oder mit Kontrollen des Impfstatus. Drohende Gefährdungen und Beeinträchtigungen der Gesundheit könnten dadurch häufiger identifiziert werden und man könnte ihnen noch im Kindesalter rechtzeitig entgegenwirken. Gleichzeitig könnten Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien und die Vermittlung von Gesundheitskompetenz in der Lebenswelt Schule etabliert werden. Dies wäre also eine Investition, die sich gleich mehrfach auszahlen würde.
Da der KJGD an der Schnittstelle zur Bildung tätig ist, trägt er ganz entscheidend zur Chancengerechtigkeit bei. 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler haben entsprechenden Unterstützungsbedarf. Ohne die (schul)betriebsmedizinische Betreuung des KJGD würden viele Kinder durchs Raster fallen. Auch bei der Inklusion, also der Eingliederung von Kindern mit Gesundheits- und Entwicklungsbeeinträchtigungen in den Schulalltag (z.B. mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Asthma, Epilepsie, ADHS) hat der KJGD eine wichtige Funktion.
Multiprofessionalität ist das Gebot der Stunde
Dafür ist „nicht nur mehr Personal notwendig, sondern auch eine noch bedarfsgerechtere multiprofessionelle Zusammensetzung der Qualifikationen“ meint auch der Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege (SVR). Dies dürfen aber nicht wie bisher vorwiegend aus – häufig mehr zufällig eingesetzten – Schulpsycholog:innen, Sozialarbeiter:innen oder Mental Health Coaches bestehen. Genauso sind Fachkräfte notwendig, die sich primär um die ganzheitliche Kindergesundheit und die gesundheitsfördernde Einrichtung Schule kümmern.
Es tut also dringend Not, den gestiegenen Anforderungen im Bereich der Öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheit gerecht zu werden. Die folgenden beiden Aufgaben sieht die Sozialpädiatrische Gesellschaft daher für überfällig und vordringlich an:
- Aufstockung der Anzahl der Stellen im KJGD. Und zwar nicht nur im ärztlichen, sondern auch im nichtärztlichen Bereich: z.B. mehr Sozialmedizinische Assistent:innen und Schulgesundheitsfachkräfte, die als Gesundheitslots:innen, Fachkräfte für Beratung in Sachen Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung, für Impfkoordination und Infektionsschutz sowie Gesundheitskompetenzvermittlung in Schulen wirksam werden können.
- Mehr personelle Ressourcen für aufsuchende Gesundheitsdienste, die von Sozialmedizinischen Assistent:innen (Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger:innen mit Zusatzqualifikation) im KJGD erbracht werden müssten. Insbesondere sozial benachteiligte Kinder könnten dadurch frühzeitig detektiert und unterstützt und schichtunspezifische potenzielle Gefährdungen des Kindeswohls erkannt werden. Auch im Falle von Schulabsentismus könnten Lehrkräfte dadurch deutlich entlastet werden.
Falls die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste nicht auch am Pakt für den ÖGD partizipieren und sowohl personell als auch strukturell gestärkt werden, könnte dieser wohlgemeinte ambitionierte (P)Akt des Bundes ein Vorhaben sein, bei dem die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien erneut allein gelassen werden. Insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien wäre das fatal. Und für eine Regierung, die sich mehr Chancengleichheit für Kinder auf ihre Fahnen geschrieben hat, ein Armutszeugnis.
Prof. Dr. med. Heidrun Thaiss ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Von 2015 bis 2020 leitete sie die BZgA.