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Gesundheit & E-Health

Standpunkte ÖGD: Was jetzt zu tun ist

Gesundheitswissenschaftler Jens Holst und Peter Tinnemann
Gesundheitswissenschaftler Jens Holst und Peter Tinnemann Foto: HS Fulda/Felix Rachor

Eine Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ist notwendig, wird aber nach dem Gießkannenprinzip nicht richtig funktionieren, meinen Jens Holst, Professor an der Hochschule Fulda und Charité-Forscher Peter Tinnemann. Zur Adjustierung seines Reformplans brauche der Minister aber auch bisher fehlende Daten über die Ausstattungen der Gesundheitsämter.

von Jens Holst und Peter Tinnemann

veröffentlicht am 18.05.2020

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Mit seinem 10-Punkte-Plan zur Unterstützung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) zielt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in die richtige Richtung. Mit der geplanten vorübergehenden personellen und dauerhaften digitalen Unterstützung soll der ÖGD, das bisherige Stiefkind des Gesundheitswesens, wirksamer dazu beitragen, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung der Covid-19-Erkrankung zu bremsen. Die möglichst rasche Rückkehr zur Normalität nach der Coronakrise erfordert, wie von Spahn erkannt, die gezielte Förderung und Modernisierung des ÖGD, damit er seinen Aufgaben zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung nachkommen kann.

Allerdings ist der ÖGD keineswegs homogen. Länder und Kommunen haben ein entscheidendes Wörtchen mitzureden. Die dezentrale Struktur mit unterschiedlichen Anforderungen an den ÖGD erfordert eine Nachjustierung des von Spahn vorgeschlagenen Plans. Dabei muss sich der Ansatz des Bundesgesundheitsministers an drei Prinzipien orientieren: Bedarfsorientierung, Regionalisierung und Standardisierung.

In sechzehn Bundesländern und fast 400 Landkreisen beziehungsweise kreisfreien Städten sind die Einrichtungen des ÖGD unterschiedlich ausgestattet und aufgestellt. In einigen Ländern unterstützen Landesgesundheitsämter die Landkreise und Städte mit fachlicher Expertise, aber sie sind unterschiedlich organisiert und es gibt sie nicht in allen Ländern. Vor allem in Großstädten wie Frankfurt am Main oder Köln gibt es „Hochleistungsgesundheitsämter“, in denen nahezu alle Stellen mit hoch qualifizierten Mitarbeitenden besetzt sind. In einigen Landkreisen gibt es Gesundheitsämter, in denen es kaum mehr Amtsärzte gibt und die ihrem gesetzlichen Auftrag nur noch teilweise oder gar nicht mehr nachkommen können. Ohnehin haben Gesundheitsämter in Großstädten und dünn besiedelten Landkreisen unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte.

Kein Übersicht über Austattungen

Das Problem für Jens Spahn ist, dass er keinen Überblick über Personal, Ausstattung und Kapazitäten in den Landkreisen, Städten und Ländern der Bundesrepublik hat. Wenn man sich den Bundesgesundheitsminister als Autofahrer vorstellt, dann weiß er nicht, wie voll sein Tank ist und wie weit er kommt. Daher kann die geplante Stärkung des ÖGD nach dem Gießkannenprinzip nicht funktionieren. Vielmehr muss Spahn erst einmal gemeinsam mit den Ländern eine Übersicht der personellen, finanziellen und infrastrukturellen Ausstattung des ÖGD auf kommunaler und Landesebene erarbeiten. 

Ein erster Schritt müsste eine Erhebung des in den Einrichtungen des ÖGD tätigen Personals und deren beruflicher Qualifikation sein. In der Corona-Krise ist dabei vor allem die Zahl der in den Gesundheitsämtern für den Gesundheitsschutz zuständigen systemrelevanten Fachärzte, beispielsweise Fachärzten für Öffentliches Gesundheitswesen oder für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsbiologie, sowie der Angehörigen der Hygiene-Fachberufe von besonderer Bedeutung.

Die erfolgreiche Unterbrechung der Corona-Infektionsketten durch die Nachverfolgung von Kontaktpersonen erfordert eine Mindestzahl von Mitarbeitern in den kommunalen Gesundheitsämtern. Dafür ist es zunächst notwendig festzustellen, wie viele Ärzte, Hygienekontrolleure und andere Mitarbeiter jedes Gesundheitsamt braucht, um dieser Aufgabe nachkommen zu können. Spahn muss daher in enger Abstimmung mit den Ländern Bedarfsanforderungen für die Ausstattung des ÖGD festlegen und auch entsprechende Kontrollmechanismen schaffen. Wegweisend ist hier das sogenannte „Mustergesundheitsamt“ in Berlin, für das der gesamte Personalbedarf und die berufliche Qualifikation der Mitarbeiter analysiert und festgelegt wurde, die für die Sicherung und Förderung der Bevölkerungsgesundheit erforderlich sind.

Über Grenzen hinweg

Die Sicherstellung einer ausreichenden personellen Ausstattung stellt den ÖGD auch aus einem anderen Grund vor besondere Probleme. Es ist unklar, was passiert, wenn in der Corona- oder einer anderen vergleichbaren Krise einzelne Kommunen oder Länder nicht in der Lage sind, in ihrem lokalen Gesundheitsamt genügend systemrelevantes Personal bereitzustellen und sich ein lokaler Ausbruch über Gemeinde- oder Landesgrenzen hinweg ausweiten kann. Möglicherweise muss der Bund für solche Fälle Kapazitäten vorhalten, die bei Bedarf die Bekämpfung lokaler Ausbrüche unterstützen können.

Ohnehin steht der ÖGD bei der Deckung des Personalbedarfs und der Gewinnung neuer Mitarbeiter vor grundlegenden Herausforderungen. Ihm hängt vielfach das Bild einer etwas verkrusteten Behörde an, die langsam und bürokratisch arbeitet und außerhalb üblicher Tageszeitungen nicht zu erreichen ist. Die angestrebte personelle Stärkung des ÖGD kann daher nur gelingen, wenn die Tätigkeitsbereiche und Berufsbilder attraktiver werden, qualifiziertes Personal anziehen und eine hochwertige Aus- und Fortbildung gewährleisten. Dazu gehört auch eine aktivere Beschäftigung des ÖGD mit den gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit und ein konsequentes Vorgehen gegen krankmachende Einflussfaktoren. Hier könnte der Bundesgesundheitsminister das Steuer in die Hand nehmen.

Die Coronakrise hat auch deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Gesundheitsämter teilweise agiert haben. Hier ein Beispiel: Das Gesundheitsamt der Stadt Dortmund selber bot frühzeitig eine zentrale Testmöglichkeit mit anschließender Auswertung in einem nahegelegenen Labor und die anschließende Bearbeitung aller Testergebnisse an. Dadurch war das Gesundheitsamt Dortmund zeitnah über die positiven Ergebnisse und jederzeit über die Zahl der insgesamt durchgeführten Tests im Bilde. Dieses koordinierte Vorgehen erlaubte die rasche Erkennung von Risikogruppen und eine schnelle und sichere Kontrolle des lokalen Corona-Ausbruchs. Hätten die Gesundheitsämter dieses Vorgehen bundesweit in standardisierter Form angewendet, gäbe es bereits jetzt Antworten auf viele offene Fragen über die Infektionsausbreitung und eine bessere Übersicht über das Gesamtgeschehen.

Die Coronakrise hat der Bevölkerung gezeigt, dass der Staat plötzlich wieder in Aktion treten, im Dienste der Gesundheit in das gesellschaftliche Leben eingreifen und öffentliche Aufgaben wie Gesundheitssicherung und Daseinsfürsorge übernehmen kann. Dazu gehört auch die Stärkung des ÖGD, der allen Vorurteilen und fortbestehenden Mängeln zum Trotz viel besser ist als sein Ruf. Dasselbe gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern. Eine zunehmende Digitalisierung und ein Aufpolieren der Amtsstuben könnte das Image weiter verbessern. Dazu können die Pläne von Gesundheitsminister Spahn einen wichtigen Beitrag leisten. Aber, um bei dem Bild des Autofahrers zu bleiben, es geht nicht nur um die Ausstattung des Fahrzeugs, sondern auch um die Fahrerinnen und Fahrer der Gesundheitsämter. Seit Jahren ertönt die Klage, Amtsärzte würden immer weniger und immer älter. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Ärzte im ÖGD deutlich weniger verdienen als andere angestellte Ärztinnen und Ärzte. Wenn Jens Spahn dem ÖGD längerfristig ausreichend qualifizierte Fahrerinnen und Fahrer bescheren will, muss er dort auch für attraktive Gehälter sorgen.

Peter Tinnemann ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und forscht am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité - Universitätsmedizin in Berlin. Im April veröffentlichte er im Tagesspiegel Background bereits einen Fünf-Punkte-Plan für lokalen Infektionsschutz. Jens Holst ist Internist und Gesundheitswissenschaftler und Professor für Global Health an der Hochschule Fulda.

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