Trotz Gewöhnung an die besonderen Umstände stellt die Pandemie für fast alle Menschen eine Umstellung ihrer Lebensgewohnheiten dar und führt bei vielen zu einer Zunahme psychischer Belastungen. Inwiefern dadurch die Fälle psychischer Erkrankungen in Deutschland gestiegen sind, ist noch nicht ausreichend untersucht. Aber sicher ist, dass es mehr Krankschreibungen aufgrund psychischer Belastungen gibt, Stress als psychisches Symptom flächendeckend anstieg und dass bei Menschen unter 60 Jahren, gerade bei Frauen, depressions- und angstassoziierte Symptome zunahmen.
Kontrollverlust als angstauslösender Faktor im Alltag
Zunächst löst die Pandemie-Situation Ängste und Unsicherheiten aus, weil der Verlauf weiterhin unvorhersehbar ist. Bei vielen Menschen führt die Pandemie zudem zu einem Gefühl von Kontrollverlust und Hilflosigkeit, weil wichtige Teile des Alltags und häufig auch die Zukunft nicht mehr sicher geplant werden können und zunehmend als unkontrollierbar erlebt werden.
Meldungen zum Beispiel über neue Virus-Varianten mit höherer Infektiosität, über die verzögerte Impfstoffversorgung, über unterschiedliche Wirksamkeiten der Impfstoffe und möglicherweise eine geringere Wirksamkeit nach Infektion oder Impfung als erwartet, verstärken die Unsicherheit und das Gefühl von Unkontrollierbarkeit. Faktoren, die dazu beitragen, psychische Gesundheit zu erhalten, wie Sport, Hobbys und soziale Kontakte, fallen in der Pandemie zudem weitgehend weg oder müssen geändert werden.
Die Angst vor der Infektion und ihren Folgen
Besonders schwierig ist die Situation für Menschen, die schon vor der Pandemie psychisch erkrankt waren. Bei ihnen haben Isolation und Einsamkeit häufig besonders starke Auswirkungen, vor allem depressive Symptome und Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen verstärken sich. In vielen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken kommt es zu Verschiebungen von Behandlungsterminen und einer Einschränkung von Versorgungsangeboten.
Neben den indirekten psychischen Belastungen gibt es auch direkte Auswirkungen der Erkrankung auf die Psyche von Genesenen. Die Post-Covid-Symptomatik (auch Long-Covid genannt) umfasst meist Luftnot, Fatigue (extreme Müdigkeit), Unwohlsein, Schlafstörungen und eine rasche Ermüdbarkeit, nicht selten kommen Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprobleme und depressivängstliche Beschwerden hinzu. Wissenschaftlich gibt es noch nicht hinreichend Kenntnisse zum Post- oder Long-Covid-Syndrom. Wahrscheinlich aber werden die Häufigkeit und die Spätfolgen unterschätzt. Außerdem ist der Einfluss auf Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit noch nicht abschätzbar.
Folgen frühzeitig sehen und sich darauf vorbereiten
Wie sich die Pandemie weiterhin auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken wird, hängt stark mit der Entwicklung der weiteren Maßnahmen, der Dauer des Pandemie-Zustands und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie zusammen. Derzeit ist davon auszugehen, dass eine große Sehnsucht in der Bevölkerung vorherrscht, nach Aushalten und Durchhalten mit der Impfung den „Status quo ante“ zu erreichen, das heißt „so, wie es vorher“ oder „früher“ war. Diese Haltung birgt ein Risiko: Das Land und die Welt verändern sich in dieser Pandemie wahrscheinlich schneller und deutlicher als vorher und ohne Pandemie (Digitalisierung, globale Vernetzung, ökonomische und gesellschaftliche Spaltung usw.).
Diese Veränderungen werden bleiben. Es gilt, sich mit ihnen zu arrangieren. Veränderungen aktiv anzunehmen und konstruktiv und kreativ zu gestalten, hilft allgemein in Krisenzeiten und spezifisch bei der aktuellen Pandemie, besser zurechtzukommen, als wenn Belastungen und Beeinträchtigungen im Zentrum stehen und eher passiv auf Durchhalten und Abwarten gesetzt wird. Generell gilt es, eine Haltung einzunehmen, mit der auch weiteren Veränderungen begegnet werden kann, denn die Pandemie ist eine Langstrecken- und keine Kurzstreckenaufgabe.
Wichtig ist, dass noch bevorstehende Konsequenzen für die psychische Gesundheit der Bevölkerung möglichst früh erkannt und präventiv aufgefangen werden. Sowohl die ökonomischen Folgen als auch die Erfahrungen mit Isolation, Ungewissheit und Ängsten werden nachhaltig einen höheren Bedarf an psychologischer und psychotherapeutischer Versorgung mit sich bringen. Gerade jetzt ist psychotherapeutische und psychologische Versorgung wichtiger als je zuvor.
Positivtrend zu mehr Flexibilität und mehr Selbstachtsamkeit
Ein stärkerer Fokus auf die Bedeutung des Gesundheitssystems und auch auf die psychische Gesundheit bei jedem Einzelnen und in der Gesellschaft könnte auch dazu führen, dass wir gestärkt oder zumindest etwas `klüger´ aus der Pandemie herausgehen. So werden durch die Covid-Schutzmaßnahmen längst hinfällige Schritte im Bereich der Digitalisierung auf- oder nachgeholt. Sei es eine Aufstockung telemedizinischer Angebote oder die umweltfreundlichere Durchführung von Online-Konferenzen für die Menschen, die sonst ins Flugzeug gestiegen wären. Auch flexible und individuelle Möglichkeiten für das Arbeiten im Homeoffice werden erkannt. Außerdem befassen sich viele Menschen mehr mit ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit. Diese vermehrte Selbstachtsamkeit kann langfristig positive Auswirkungen haben.
Gleichwohl können Shutdown, Homeoffice, Homeschooling und andere familiäre Stressoren auch vermehrte Belastungen darstellen, und nicht wenige geraten an psychische und körperliche Grenzen. Wenn es gelingt, den Perspektivenwechsel und die Achtsamkeit für körperliche, psychische und soziale Bedürfnisse aufrechtzuerhalten und zu stärken und dabei auch das Wohlergehen der Mitmenschen im Blick zu haben und Rücksicht zu nehmen (beispielsweise Mund-Nasen-Schutz, Abstandsregeln, angemessene Rücksicht auf gefährdete Andere), könnte auch etwas Positives entstehen: Achtsamkeit, Solidarität und Mitmenschlichkeit weit über die Pandemie hinaus.
Professor Matthias J. Müller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychologe und Verhaltenstherapeut ist CEO, Ärztlicher Direktor und Medizinischer Geschäftsführer der Oberberg Gruppe.