Die Pandemie hat uns überrollt und jedes Mitglied der Gesellschaft hat seinen Teil dazu beizutragen, dass wir gemeinsam da durch kommen. Verzicht war angesagt, das Halten an zuvor nur schwer vorstellbare Regeln und Einschränkungen. Das Licht am Ende des Impftunnels wird heller (trotz aller Mutanten) und doch ist Vorsicht geboten. Und zwar Vorsicht davor, dass wir nicht freudestrahlend und euphorisch in die zweite Pandemie rauschen. Diesmal eine Pandemie der psychischen Gesundheit. Denn im gleichen Zug, wie die Corona-Fallzahlen sinken und sich die Gesellschaft der lang ersehnten körperlichen Gesundheit freut, werden uns die mentalen Pandemie-Folgen noch länger begleiten.
Einige Expert:innen gehen derzeit davon aus, dass das ganze Ausmaß erst post-covid auf uns zukommen wird. Viele Menschen erwarten mit dem Eintreten des ersehnten Normalzustandes auch eine Verbesserung ihrer psychischen Situation, könnten aber feststellen, dass es so einfach nicht ist. Wenn Burnout und Depression schon vorher für jede Dritte Berufsunfähigkeit verantwortlich waren, sollten wir nicht zulassen, dass sie bald pandemisch werden.
Die Zeit als Vorteil nutzen
Aber bei allem Mahnen lässt sich immerhin ein positiver Punkt festhalten. Denn anders als in der Corona-Pandemie muss uns die psychische Belastung nicht überraschen. Die Zeichen sind überall klar zu erkennen und fordern uns auf, jetzt noch rechtzeitig gegenzusteuern. Weltweite Studien bescheinigen uns als Gesellschaft eine außergewöhnlich hohe psychische Stressbelastung, die immer mehr in pathologische Krankheitsbilder abdriftet. Auch in Deutschland gab es nie so viele psychisch bedingte Ausfalltage wie 2020. Die Global Leadership Forecast 2021 schlägt als weltweit größte Führungskräftestudie Alarm, dass sich 86 Prozent aller Nachwuchsführungskräfte am Ende ihres Arbeitstages ausgelaugt und leer fühlen. Die Zahlen zeigen uns, dass wir handeln müssen und noch ist die Zeit, das zu tun.
Über das letzte Jahr hinweg haben sich die Anfragen an professioneller Unterstützung im Hinblick auf die psychische Gesundheit auch bei uns im Business-Coaching vervielfacht. Viele Unternehmen nehmen wahr, dass es ihren Mitarbeitenden an den heimischen Schreibtischen oder in systemrelevanten Berufen an der Pandemie-Front nicht (mehr) gut geht und suchen bei uns nach der Möglichkeit, das Wohlbefinden stärker zu fokussieren.
Viele sehen, aber zu wenige handeln
Doch fällt auf der anderen Seite immer wieder auf, dass noch viel zu viele Unternehmen an einem „Weiter so!“ oder, noch fataler, am „back to usual“ festhalten. Dabei sollten wir uns alle bei den momentanen Zeichen davor hüten, keine Lehren aus dem vergangenen Jahr zu ziehen. Nach der ganzen, teilweise berechtigten Kritik an der politischen Entscheidung, die Unternehmen und Betriebsärzte zu spät mit in die nationale Impfstrategie einzubinden, haben die großen Konzerne, KMUs und Start-ups Deutschlands jetzt die Möglichkeit, zu zeigen, wie gut sie in der Organisation einer Pandemie-Bekämpfung sind: und zwar proaktiv und freiwillig.
Der Grund dafür, warum ich Unternehmen so in die Pflicht nehmen möchte, ist schnell dargelegt: Durch ihre hierarchische Struktur, die vielen menschlichen Interaktionen und schließlich den trivialen Punkt, dass die meisten von uns mindestens acht Stunden täglich mit unserem Job beschäftigt sind, können Unternehmen einen enormen Einfluss darauf nehmen, wie es um das Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden bestellt ist. Anstatt sich wegzuducken und die psychische Gesundheit der Belegschaft als Privatangelegenheit zu betrachten, um die sich jede Person bitteschön nach Feierabend und am Wochenende kümmern soll, ist es deutlich sinnvoller, diese Angebote dort zu schaffen, wo die Menschen ohnehin schon sind. Und das im besten Fall zu einem Zeitpunkt, bei dem noch alles möglich ist.
Proaktives Gesundheitsmanagement ist Eigeninteresse
Darüber hinaus ist die betriebliche Investition in die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden kein moralischer Selbstzweck, sondern entlastet langfristig auch die Unternehmen selbst. Schon 2017 wurde der finanzielle Verlust durch vermeidbare(!) psychische Ausfalltage auf 44,4 Milliarden Euro geschätzt. Neben den steigenden Fehltagen ist auch der Präsentismus ein unternehmerisches Problem, da er nur sehr selten in die offiziellen Statistiken mit eingeht. Dabei geht es um psychisch belastete Menschen, die zwar zur Arbeit kommen, aber einen Großteil ihrer Leistungsfähigkeit einbüßen. Diese Mitarbeitenden – deren Zahl nicht zu unterschätzen ist – sind genau die kritische Zielgruppe, auf die es ankommt. Fangen wir jetzt als Unternehmen an, diese zu unterstützen, lässt sich der Pandemie der psychischen Gesundheit definitiv noch etwas entgegensetzen. Verpassen wir unsere Chance und nehmen die Verantwortung als Arbeitgebende nicht wahr, könnten ungesunde Zeiten folgen.
Gemeinsam lassen sich auch die Post-Covid Herausforderungen bewältigen. Besser noch: Wir gehen direkt die Ursache an und verhindern damit eine weitere Verschlechterung der Lage. Lasst uns das Bewusstsein für das Thema schärfen und Räume zur psychologischen Sicherheit schaffen, zum Beispiel durch anonyme Umfragen oder persönliche Gesprächsangebote. Entscheidend wird es sein, rechtzeitig an den Stellschrauben zu drehen, die uns zur Verfügung stehen. Mental Health ist ein zutiefst mit der Arbeit verstricktes Konzept, darum sollten Unternehmen als gesellschaftliche Akteure den ersten Schritt machen. Denn wo die Ursache bekämpft wird und keine negativen Wirkungen auftreten, wird es auch zu keiner zweiten Pandemie kommen.
Yannis Niebelschütz hat zusammen mit seinem Bruder Matti Niebelschütz Mitte 2018 in Berlin das Unternehmen CoachHub gegründet. Das Start-up betreut Unternehmen bei Online-Schulungen und Personalentwicklung, vorwiegend auf der Ebene des mittleren Managements.