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Standpunkte Pflege ist krisensicher

Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen
Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen Foto: UK Essen

Die Corona-Krise hat einmal mehr aufgezeigt, wie tiefgreifend dieser Pflegenotstand tatsächlich ist, meint der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende der Universitätsmedizin Essen, Jochen A. Werner. In seinem Standpunkt skizziert er drei Lösungsansätze gegen den Pflegenotstand.

von Jochen A. Werner

veröffentlicht am 14.09.2020

aktualisiert am 04.01.2023

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Zu wenig Zeit für Patienten, Überstunden, fehlende Wertschätzung, zu geringe Bezahlung und ein viel zu hoher Dokumentationsaufwand – das ist heute oftmals Alltag in der Pflege. Kein Wunder, dass die Attraktivität dieses Berufsbildes sowohl im Krankenhaus als auch in den verschiedenen Pflegeeinrichtungen in den letzten Jahren massiv abgenommen hat. Die Corona-Krise hat einmal mehr aufgezeigt, wie tiefgreifend dieser Pflegenotstand tatsächlich ist. Strukturelle Defizite und personelle Engpässe, die im Regelbetrieb noch kaschiert werden konnten, sind in dieser außergewöhnlichen Belastungssituation zum Teil deutlich zutage getreten.  

Wir haben es dem großen Einsatz unserer Pflegekräfte zu verdanken, dass Patienten auf hohem medizinischem und pflegerischem Niveau versorgt wurden, trotz des hohen Arbeitsanfalls und der immensen psychischen Mehrbelastung. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass sich Pflegekräfte und Ärzte in den unmittelbaren Kontakt mit Covid-19-Patienten begeben haben und immer noch begeben, ohne Impfstoff oder spezifische Therapiemöglichkeit eines ganz neuen Krankheitsbildes. Dieses medizinische Personal musste und muss zudem die Möglichkeit verarbeiten, die Erkrankung in die Familie und den Freundeskreis zu transportieren oder eben in umgekehrter Richtung auf pflegebedürftige Menschen zu übertragen. Dieser Ausnahmezustand verdeutlicht den besonderen Stellenwert des Pflegepersonals in der Gesellschaft, der mit dem immer wieder erwähnten Klatschen auf den Balkonen bedacht wurde. Allerspätestens jetzt dürfte der Letzte begriffen haben, dass wir uns nicht länger darauf verlassen dürfen, dass tiefgreifende Defizite durch das erhöhte Engagement einer Berufsgruppe aufgefangen werden – zumal die demographische Entwicklung das Delta zwischen Bedarf und Verfügbarkeit an qualifiziertem Pflegepersonal noch dramatisch verstärken wird.  

Wir brauchen eine bundesweite, professionell kommunizierte Offensive zur nachhaltigen Stärkung des Pflegeberufs, eines Berufsbildes, das wie kaum ein anderes absolut krisensicher ist und durch Digitalisierung wesentlich mehr gestärkt als geschwächt wird. Diese positive Betrachtung muss nachhaltig vermittelt werden, auch Schülern und ebenso Eltern, deren größte Erfüllung oftmals im Studium ihrer Kinder liegt, den Umstand verdrängend, dass Studium nicht vor Arbeitslosigkeit schützen wird. Unter den verschiedenen erforderlichen Maßnahmen will ich drei Lösungsansätze gegen den Pflegenotstand skizzieren.  

Die Chancen der Digitalisierung nutzen 

Viele Pflegefachkräfte verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Arbeitszeit nicht mit der Pflege oder dem Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten, sondern mit patientenfernen Tätigkeiten. Dokumentation, Essenbestellung, Betten- und Gerätemanagement oder Terminierung – das alles sind fachfremde Tätigkeiten, die Zeit und Ressourcen kosten und von der eigentlichen Kernaufgabe abhalten. Wenn es gelingt, diese Aufgaben mit digitaler Hilfe effizienter zu erledigen, würden davon die uns anvertrauten Menschen und die Beschäftigten ganz unmittelbar profitieren. 

Hierzu gehören beispielsweise die elektronische Patientenakte, ein digitales Service- und Informationscenter oder ein algorithmengestütztes Bettenmanagementsystem. Derartige Projekte haben ein gemeinsames Ziel: Die Digitalisierung zum konkreten Nutzen unserer Pflegefachkräfte einzusetzen und dadurch die wichtigste Ressource ihrer Arbeit zu stärken – mehr Zeit für den Patienten und mehr Zeit für sich selbst. Auch die Politik ist hier gefordert, indem die kleinteilige und ineffiziente Struktur der deutschen Krankenhauslandschaft gestrafft und in leistungsfähigen Einheiten sowie regionalen Gesundheitszentren zusammengeführt wird, wie es andere Länder bereits vorgemacht haben. Das Ergebnis ist nicht nur eine bessere Krankenversorgung, sondern auch ein nachhaltigerer Einsatz des vorhandenen Pools an qualifizierten Pflegekräften.  

Eine gerechte Entlohnung und zeitgemäße Arbeitsbedingungen 

Das seit diesem Jahr geltende Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist ein Schritt zur Festlegung verbindlicher Pflegepersonaluntergrenzen. Damit wird der Pflegequotient transparenter. Es wird sichtbarer, ob ein Krankenhaus mit den erzielten Pflegeerlösen die erforderliche Personalausstattung finanziert oder auf Kosten der Pflege spart. Die Ausgliederung der Personalkosten aus den DRGs (Diagnosis Related Groups) ist nicht unumstritten. Ein Thema, das an dieser Stelle nicht vertieft werden soll, träfe es nicht das Anliegen dieses Beitrags.  

Meiner Ansicht nach muss das gesamte Vergütungssystem im Gesundheitswesen überdacht werden. Dazu gehört auch eine Harmonisierung der Entgeltsysteme eines relevanten Anteils des ambulanten und stationären Sektors, um Fehlanreize zu vermeiden. Aber wie gesagt, mit dem Gesetz ist auf jeden Fall in Teilen ein richtiger Weg bereitet, aber eben noch nicht in die Tat umgesetzt. Das Pflegebudget soll auf Ortsebene verhandelt werden und die hausindividuellen Pflegepersonalkosten unter Berücksichtigung des Pflegepersonalbedarfs abbilden. Und genau an diesem Punkt hängt der Vorgang an nicht wenigen Institutionen.  

Von ganz besonderer Priorität ist die adäquate Vergütung für alle Pflegefachkräfte und das heißt eine spürbare Erhöhung der Bezahlung. Gerade aus diesem Grunde bin ich bezüglich des Ansatzes der diskutierten Einmalzahlung in Höhe von bis zu 1.500 Euro skeptisch. Ein einmaliger Bonus löst kein einziges strukturelles Problem im Pflegebereich, vielmehr steht zu befürchten, dass der politische Druck, die Rahmenbedingungen für die Pflege zu verbessern, mit dem Hinweis auf die Einmalzahlung sinken könnte.  

Schließlich, und dies ist ein ebenfalls extrem wichtiger Punkt, brauchen wir auf den Stationen einen wertschätzenden, teamorientierten Umgang miteinander sowie eine partnerschaftliche Kommunikation zwischen allen Berufsgruppen. Als langjähriger Mediziner mit Führungsverantwortung weiß ich, dass viele Ärztinnen und Ärzte auch heute noch in hierarchischen Denk- und Verhaltensweisen sozialisiert sind, die einer interprofessionellen Teamarbeit entgegensteht. Das können und wollen wir uns aber ebenso wie in der Industrie nicht mehr leisten, um attraktive Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Modernes Führungsverhalten ist dafür Grundvoraussetzung. Dies muss aber auch gelehrt werden. Spitzhierarchische Strukturen sind mit aller Intensität zu beseitigen. Das Tolerieren solcher macht mitschuldig. 

Die Attraktivität des Berufsbildes herausstellen 

Ich bin der festen Überzeugung, dass der Pflegeberuf eine der befriedigendsten und sinnvollsten Tätigkeiten ist, die man sich vorstellen kann. Dies bestätigen die allermeisten Pflegefachkräfte, auch wenn sie unter den schwierigen Rahmenbedingungen leiden. Wir brauchen daher – simultan zu allen anderen Anstrengungen zur konkreten Verbesserung des Arbeitsumfeldes – auch eine Kommunikationsstrategie, die ehrlich die Herausforderungen, aber auch die einzigartigen Chancen und Perspektiven des Berufsbildes aufzeigt.  

Ein zentraler Punkt für die Attraktivität dieses Berufes ist mir in der Diskussion bislang immer zu kurz gekommen, nämlich: Pflege ist nicht disruptiv. In vielen Branchen erleben wir aktuell gewaltige Umwälzungen, die gerade jungen Menschen eine verlässliche Lebensplanung auf der Grundlage eines gesicherten Arbeitsplatzes erschweren. Bei der Pflege ist dies nicht der Fall. Auch in den nächsten Jahrzehnten werden Menschen Menschen pflegen. Mit digitaler Unterstützung, in interdisziplinären Teams, gegebenenfalls auch mit bestimmten Robotern, zum Beispiel bei körperlich schweren Arbeiten. Aber die Pflege bleibt im Kern erhalten und schafft damit bei der Lebensplanung ein wichtiges Stück Sicherheit, das andere Berufe nicht bieten können. Diesen Gedanken müssen die Akteure in der Medizin offensiv kommunizieren, um bei jungen Menschen im Wettbewerb mit anderen Ausbildungen zu bestehen.  

Der Pflegenotstand ist ein tiefgreifendes strukturelles Problem im deutschen Gesundheitswesen, das sich über lange Zeit entwickelt und verfestigt hat. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass es dauern wird, bis diese Herausforderung gelöst wird. Aber die Zeit drängt. Und die Größe und Schwierigkeit der Aufgabe machen gerade deswegen schnelles Handeln erforderlich. Die an dieser Stelle skizzierten Lösungsansätze sind aus meiner Sicht die zentralen, aber beileibe nicht die einzigen Handlungsfelder. Einzelne Strohfeuer werden nicht helfen. Wir brauchen vielmehr eine konzertierte Aktion, gesteuert und unterstützt von der Politik, aber ebenso vorangetrieben von den medizinischen Leistungserbringern vor Ort, auch von den Ärzten, deren Wirksamkeit ohne Pflege maximal reduziert bleibt. Nur gemeinsam kann diese große Aufgabe gelöst werden. 

Professor Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen. 

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