Der Anruf kam sehr spät am Abend, und es ging um eine entscheidende Frage. Deutschland in den ersten Monaten des Jahres 2021; der zweite Corona-Winter geht zu Ende, die Vorbereitungen für den Start der Impfkampagne laufen auf Hochtouren, die Hoffnungen, die Pandemie schnell und wirkungsvoll bekämpfen zu können, sind groß. Noch sind sich die Gesundheitsminister der Länder und des Bundes nicht einig, wer für die Verteilung der Impfstoffe verantwortlich sein soll. Während die Länder die Impfzentren bevorzugen, möchte der Bund zusätzlich auch die vorhandene bundesweit flächendeckende Infrastruktur des vollversorgenden pharmazeutischen Großhandels zur Versorgung der Apotheken und damit der niedergelassenen Arztpraxen nutzen.
Die Entscheidung liegt auf dem Tisch des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Dort liegt auch das Konzept zur Impfstofflogistik, das der Verband des pharmazeutischen Großhandels PHAGRO zusammen mit den Apothekerverbänden (ABDA) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erarbeitet hatte. Und an den PHAGRO stellte der Minister die entscheidende Frage: „Kann ich mich darauf verlassen?“ Die Antwort: „Ja, das können Sie!“
Im Rückblick kann die Impfkampagne als eine logistische Erfolgsstory bezeichnet werden. Insgesamt 125 Millionen Impfdosen mitsamt dem nötigen Zubehör wurden 2021 über den vollversorgenden pharmazeutischen Großhandel ausgeliefert. Dieser Erfolg basierte auf vier Faktoren: Infrastruktur, Organisation, Kooperation und Transparenz.
Probleme wurden angepackt
Die Kernkompetenz vollversorgender Pharma-Großhändler ist es, trotz kurzer Vorlaufzeiten, Komplexität zu managen und „just in time“ zu liefern. Sie investierten in zusätzliche Tiefkühl- und Ultratiefkühllagerkapazitäten, beschafften temperaturgeführte Transportbehälter und lieferten die COVID-19-Impfstoffe über ihr flächendeckendes Netz von über 100 Niederlassungen gemäß komplexer Verteilschlüssel punktgenau und impfstoffspezifisch aus. Ein umfassendes Monitoring und Reporting-System über bestellte oder ausgelieferte Impfstoffdosen stellt hundertprozentige Transparenz für die politischen Entscheider her.
Rasch wurden neue Prozesse implementiert, die Beschäftigten für den richtigen Umgang mit den Impfstoffen und dem entsprechenden Zubehör geschult und qualifiziert. Das alles war in der üblichen Arbeitszeit nicht zu schaffen: Überstunden, Wochenend- und Feiertagsarbeit waren monatelang die Regel in den Großhandelsbetrieben. Der Leiter des Corona-Krisenstabs im Bundeskanzleramt, Generalmajor Carsten Breuer, hat diese Leistungen so gewürdigt: „Wir können nur erfolgreich sein, wenn wir aktiv und mit hoher Flexibilität und Agilität die Probleme identifizieren und in Angriff nehmen. Der Pharmagroßhandel hat in der Pandemie gezeigt, wie das funktionieren kann.“
Voraussetzungen für den Erfolg waren darüber hinaus die enge Kooperation sowie die offene Kommunikation mit allen Beteiligten, vom Bundesgesundheitsministerium über die Impfstoffhersteller bis hin zu Ärzten und Apothekern, um nur einige zu nennen.
Fehlende Finanzierung
Der vollversorgende pharmazeutische Großhandel hat für seine Leistungen während der Corona-Krise viel Anerkennung erfahren. Bei nicht wenigen Verantwortlichen in Politik und Verwaltung hat sich das Bild dieser Branche verändert: Sie ist unverzichtbarer Teil der kritischen Infrastruktur, ohne die in Krisenzeiten eine zuverlässige und sichere Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und Impfstoffen nicht möglich wäre. Auf uns war und ist Verlass.
Leider ist die gesamtwirtschaftliche Situation, in der sich diese Infrastruktur befindet, ebenfalls als „kritisch“ zu bezeichnen, soll heißen: Sie ist gefährdet. Denn das klassische Pharma-Großhandelsgeschäft ist schon seit längerem nicht mehr ausreichend gesetzlich finanziert. So gesehen war die Corona-Impfstoffversorgung 2021 ein enormer Kraftakt hart an der Belastungsgrenze.
Ursache dafür ist die Arzneimittelpreisverordnung, in der aufgrund einer Kappungsgrenze folgendes Prinzip verankert ist: Je teurer das Arzneimittel, desto niedriger die prozentuale Marge des Großhandels. Da sich der Anteil hochpreisiger Präparate in den vergangenen gut zehn Jahren fast verdreifacht hat, während der Absatz verschreibungspflichtiger Arzneimittel insgesamt stagniert, sinkt die gesetzliche Großhandelsspanne kontinuierlich. Niedrigeren Margen stehen höhere Kosten gegenüber. Gerade die hochpreisigen, komplexen Medikamente – etwa kühlkettenpflichtige Präparate – stellen in der Regel weit höhere Anforderungen an Lagerung und Transport und machen zusätzliche Investitionen erforderlich. Hinzu kommen erhebliche Kostensteigerungen aufgrund neuer regulatorischer Auflagen zur Arzneimittelsicherheit oder zum Fälschungsschutz. Wie alle anderen Branchen, sehen sich auch die Pharma-Großhändler mit steigenden Energie- und Personalkosten konfrontiert.
Was Wertschätzung Wert ist
Wir stehen in Deutschland vor der grundlegenden Frage, wie wir das Gesundheitssystem weiterentwickeln wollen. Es ist nicht nur die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung, die stabilisiert werden muss. Es sind die Versorgungsstrukturen in unserem Land, die gesichert und zukunftsfähig gemacht werden müssen. Ein Gesundheitswesen, das leistungsfähig sein will, braucht auch die funktionierende, sichere und flächendeckende Infrastruktur vollversorgender Pharma-Großhändler. Die künftigen Debatten werden zeigen, was den politisch Verantwortlichen die Wertschätzung für den pharmazeutischen Großhandel tatsächlich Wert ist.
André Blümel ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands des pharmazeutischen Großhandels PHAGRO.