Wenn es um nicht lieferbare Arzneimittel geht, kippt die öffentliche Diskussion schnell ins Emotionale. Das ist verständlich, denn Medikamente sind keine gewöhnlichen Bedarfsgüter. „Gewöhnlich“ ist bei Arzneimitteln schlichtweg gar nichts, nicht einmal der Weg ihrer Produktion. Die Herstellung der meisten Arzneimittel teilt sich auf in die Produktion der Rohstoffe – insbesondere der Wirk- und Hilfsstoffe –, das Pressen der eigentlichen Tabletten sowie deren Verblisterung und Verpackung. Auf jeder Produktionsstufe sind meist unterschiedliche Akteure tätig. Akteure, die oft international agierende Unternehmen sind. Ihre Identität bleibt nicht selten im Dunkeln. Weil Lieferengpässe seit Jahren globale Dimensionen haben, ist dem Problem mit national begrenzten Lösungsvorschlägen deshalb nicht beizukommen.
Dennoch erheben sich Stimmen aus den Lobbykreisen der pharmazeutischen Unternehmen, die behaupten, durch mehr Geld ließen sich in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen Anreize schaffen, um eine „Rückverlagerung“ der Wirkstoffproduktion anzuregen. Bisher müsse die Wirkstoffproduktion in China und Indien stattfinden, weil der Kostendruck auf die Hersteller inzwischen so groß sei, dass sie nur in Fernost kostendeckend produzieren könnten. Die Verantwortung schiebt die Pharmalobby dabei den gesetzlichen Krankenkassen zu, die mit ihren Arzneimittelrabattverträgen angeblich eben jenen Kostendruck aufbauten, der die Hersteller ohne finanzielle Anreize daran hindere, sich in Europa anzusiedeln.
Dieser Argumentationsgang ist ebenso eingängig wie unwahr. Bereits seit den späten siebziger Jahren wich die Wirkstoffproduktion nach Fernost aus. Die Differenz zwischen niedrigen Herstellungskosten und hohen Verkaufspreisen befeuerte die Margen der Konzerne ja. Die Herstellung von Arzneimittelwirkstoffen folgt darin derselben unternehmerischen Logik, die auch Fahrzeughersteller, die optische Industrie und die Mikroelektronik in Asien produzieren lässt. Hinzu kam eine patentrechtliche Besonderheit, die erst 2019 ihre Wirkung verlor: 27 Jahre lang war es innerhalb der EU nicht statthaft, eine Generikaproduktion vor dem letzten Tag eines ablaufenden Patents anzufahren. In den Tigerstaaten des fernen Ostens konnten Wirkstoffproduzenten ihre technisch anspruchsvollen Produktionsstraßen aber schon lange vor Patentablauf errichten. Nur so konnte Europa bereits am ersten Tag nach Ende des Patents auf preiswerte Generika zugreifen.
Patentrechtliche Hürde fiel auf Initiative der Generikalobby
Die patentrechtliche Hürde ist 2019 auf Initiative der Generikalobby Europas hin gefallen. Wenn der Aufbau einer leistungsfähigen Wirkstoffproduktion in Europa mehrere Jahre in Anspruch nimmt, bestünde nun Gelegenheit zu verbindlichen Zusagen der Hersteller. Der Anteil des deutschen Generikamarkts am weltweiten Arzneimittelmarkt liegt bei gerade einmal vier Prozent. Wie dieser Marktanteil global agierende Konzerne derart belasten kann, dass sie immer noch die Rabattverträge der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland als Ursache nennen, bleibt rätselhaft.
Auch die neuesten Forderungen des BPI kommen mit dieser wenig glaubhaften Argumentation daher. Unerklärlich bleibt ebenfalls, weshalb auch andere große Industrienationen Lieferengpässe erleiden, obwohl der Kostendruck der Rabattverträge dort gar nicht besteht. Schließlich gibt es weder in den USA, noch in der Schweiz, noch in Frankreich Rabattverträge – sehr wohl aber Lieferengpässe. In den USA rund doppelt so viele wie in Deutschland. Die Schweiz listet aktuell 568 nicht lieferbare Produkte bei 287 betroffenen Wirkstoffen, in Rumänien fehlen derzeit sogar 695 Präparate. Deutschland verzeichnet 257 nicht lieferbare Arzneimittel, wovon vor allem Kliniken betroffen sind.
Nicht der gesamte generische Arzneimittelmarkt in Deutschland wird über Rabattverträge geregelt. Doch auch, wo es sie nicht gibt, kommt es zu immensen Lieferausfällen. Die Krankenhausapotheken verhandeln eigenständig und direkt mit den Herstellern. Gerade bei typischen Krankenhausmedikamenten kommt es aber regelmäßig zu Engpässen. Das im Kreißsaal für die Einleitung von Geburten unentbehrliche Notfallmedikament Oxytocin war 2019 über lange Zeit nicht lieferbar. Keine Krankenkasse hatte dafür einen Rabattvertrag abgeschlossen.
Neue Kompetenzen des BfArM
Die Verantwortung für Lieferengpässe kann nicht jenen Einrichtungen zugeschoben werden, die mit Arzneimittelrabattverträgen das einzige Steuerungsinstrument nutzen, das Hersteller zur Lieferung verpflichtet, während die nicht liefernden Hersteller diskret die Bühne der öffentlichen Wahrnehmung verlassen. Nach wie vor kommt es darauf an, die Hersteller in die Verantwortung zu nehmen.
Zuletzt hat der deutsche Gesetzgeber die Kompetenzen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestärkt, an das nun pharmazeutische Unternehmen alle sich kurzfristig abzeichnenden Engpässe melden müssen. Die AOK Baden-Württemberg hatte dies seit Jahren gefordert und begrüßt sehr, dass sich das BfArM nun ein Stück weit auf dem Weg zum Trustcenter befindet. Ihre de facto vorhandenen Bestände müssen die Unternehmen aber noch immer nicht offenlegen. So bleibt der Pharmamarkt eine Blackbox, deren Inhalt niemand kennt.
Solange sich die Pharmaindustrie in der Diskussion um Lieferengpässe primär eigene Interessen verfolgt, müssen sich die übrigen Akteure des Gesundheitswesens nach einem Plan B umschauen. Frankreich hat kürzlich eine öffentlich getragene Wirkstoffproduktion vorgeschlagen. Auf EU-Ebene eine kritische Wirkstoff-Reserve anzulegen, wäre eine Möglichkeit, versorgungskritischen Engpässen vorzubeugen. Es ist an der Zeit, sich neuen Lösungsansätzen zu stellen.