In Deutschland leiden etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen. Zu viele von ihnen werden nicht ausreichend behandelt. Durchschnittlich dauert es acht Jahre, bis ein Schmerzpatient in einer Praxis oder Klinik behandelt wird, die auf Schmerztherapie spezialisiert ist. Die Ursachen für diese Unterversorgung sind vielfältig. Sie liegen unter anderem in einer Gesundheitspolitik, die traditionell an Tabletten, Tropfen und Spritzen festhält, statt ganzheitliche und nachhaltige Therapien zu fördern – Therapien, die Patient:innen ermutigen, selbst aktiver zu werden, die sie psychologisch begleiten, ihnen Wissen vermitteln und Tools für bessere Selbstwirksamkeit an die Hand geben. Das Gesundheitssystem muss sich noch mehr dafür öffnen, ein Empowerment der Patient:innen im Umgang mit dem Schmerz als Teil der Therapie zu etablieren.
Mit der Einführung von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ist die Gesundheitspolitik einen wichtigen ersten Schritt in die Richtung von Patient:innen-Empowerment gegangen. Diese vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüften Apps, die es unter anderem für Migräne gibt, bringen die für Betroffene so wichtige Kontrollfunktion mit. Sie lassen Patient:innen ihre Erkrankung besser verstehen, ohne zu bewerten – sei es durch Schmerztagebücher, individuelle Ernährungsempfehlungen oder die Möglichkeit, alle Erhebungen mit dem behandelnden Arzt zu teilen. Gerade bei Schmerzerkrankungen geht es auch darum, aktiv zu sein, etwas zu lernen und Selbstwirksamkeit zu erleben.
Stärkung der ärztlichen Rolle bei DiGA
Deshalb wird es Zeit, dass DiGA noch besser im Gesundheitssystem ankommen. Dafür müssen sich jedoch die Rahmenbedingungen und Anreize verbessern. Wie auf dem Ärztetag zur Digitalisierung im Gesundheitswesen gefordert, müssen DiGA stärker in die ärztliche Therapie integriert und eine angemessene Honorierung ärztlicher Tätigkeiten im digitalen Bereich sichergestellt werden. Es sollte zudem diskutiert werden, warum allein die Krankenkassen die Anwendung von DiGA genehmigen. Ohne eine Stärkung der ärztlichen Rolle bei der Beurteilung von DiGA, laufen wir Gefahr, dass sie zu einem eigenen Versorgungsbereich parallel zu anderen medizinischen Versorgungsbereichen werden.
Migräne ist ein typisches Beispiel dafür, wie groß der Bedarf an digitaler Unterstützung ist. Das betrifft das Identifizieren von Triggern ebenso wie die psychische Begleitung. Denn selbst die schmerzfreien Phasen gehen mit der ständigen Angst einher, dass die nächste Migräneattacke bald wieder bevorsteht. Diese Erkrankung bringt zusätzlich zu den quälenden Schmerzen emotionale Belastungen mit sich, die von Kontrollverlust, Einsamkeit und Schuldgefühlen geprägt sind.
Die Patient:innen ziehen sich zurück, sind alleine, werden nicht gesehen und müssen selbst entscheiden: „Wann nehme ich welches Medikament? Darf ich sagen, dass ich Migräne habe, oder werde ich dann belächelt? Und bin ich vielleicht selbst an allem Schuld?“ Verantwortlich für diese Verunsicherung sind auch viele Mythen, die rund um Schmerzerkrankungen in den Köpfen und im Internet herumgeistern. Dass Schokolade Migräne triggert, ist so ein verbreiteter Irrglaube, doch in Wahrheit ist der Heißhunger auf Süßes bereits Teil der Migräneattacke.
Mehr Wissen und Eigenverantwortlichkeit stärken die Zuversicht
In meiner Praxis sehe ich tagtäglich Schmerz- und Migränepatient:innen, die verzweifelt auf der Suche nach mehr Kontrolle über ihre Erkrankung sind. Ihnen fehlt die Zuversicht, sich einfach mal wieder zu verabreden, ohne Angst zu haben, dass sie kurz vor dem Treffen, dem schönen Konzert oder der Familienfeier wieder absagen müssen. „Nimm doch eine Schmerztablette“ ist dabei wohl der häufigste Satz, den sie von ihrem Umfeld hören. Doch damit ist es nicht getan. Zu oft stoßen Medikamente an ihre Grenzen und geben Patient:innen das Gefühl, ihnen ausgeliefert zu sein.
Was wir vermehrt brauchen, ist das Stärken von Selbstwirksamkeit, indem wir Patient:innen Wissen vermitteln und sie in die Lage versetzen, eigenverantwortlich mit ihrer Schmerzerkrankung umzugehen. Es geht kein Weg an einem klaren Bekenntnis der Gesundheitspolitik zu innovativen Online-Therapien vorbei. Es liegen noch zu viele Steine zwischen der Innovationskraft der DiGA-Hersteller und den Regularien des Gesundheitssystems. Sie auszuräumen, würde niemandem wehtun.
Dr. med. Astrid Gendolla ist Fachärztin für Neurologie, spezielle Schmerztherapie und Psychotherapie.