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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Unsere Gesundheitswelt im Jahr 2049

Die Zukunftsforscher Daniel Dettling und Corinna Mühlhausen
Die Zukunftsforscher Daniel Dettling und Corinna Mühlhausen Foto: Edgar Rodtmann/privat

Die Zukunftsforscher Daniel Dettling und Corinna Mühlhausen beschreiben in ihrem Standpunkt, wie die Gesundheitswelt 2049 aussehen könnte. In manchen Bereichen ist der Wandel bereits im Gange, in anderen beginnt er gerade.

von Daniel Dettling und Corinna Mühlhausen

veröffentlicht am 24.11.2020

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2020 hat gezeigt: Deutschland hat auch im Fall einer Pandemie eines der stärksten Gesundheitssysteme. Der Mix aus individueller Vorsorge und kollektiver Verantwortung, das kooperative Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren sowie das Zusammenspiel von High Tech und High Touch haben eine Gesundheitskatastrophe verhindert. Doch in welcher Gesundheitswelt werden die im Jahr 2020 Geborenen leben? Es sind mehrere miteinander verbundene „P“, welche die Gesundheitswelt von morgen definieren: Personalisierung und Patientendemokratie, Prävention, Professionalisierung und Public Health, urbane Plattformen und neue Partnerschaften. 

Lebensqualität wird wichtiger als Lebenserwartung 

Personalisierung und Patientendemokratie. Medizin wird bis 2050 zur präzisen und datenbasierten „Wissenschaft der Individualität“ (Eric Topol). Es geht um die Verbindung von emotionaler, sozialer und künstlicher Intelligenz. Zu den Treibern werden der demografische, der gesellschaftliche und der digitale Wandel. Die Gesundheitswelt wird gleichberechtigt, individualisiert und altersübergreifend. „Patientendemokratie“ wird zu ihrem neuen Leitbild. Die subjektive Verjüngung einer objektiv alternden Gesellschaft wird in den kommenden Jahren das Lebensgefühl des Einzelnen beherrschen und damit auch zu einem bestimmenden Faktor für das Gesundheitssystem werden. Lebensqualität wird wichtiger als Lebenserwartung. Das Investment des Einzelnen in seine Lebensqualität – die Optimierung von Körper, Geist und Seele - wird höher, die Bereitschaft zur Zuzahlung oder die Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistungen größer sein. Digitale Werkzeuge wie Assistenzsysteme und Apps unterstützen die Patienten in ihrer Selbständigkeit und fördern ihre Autonomie. „Home and self care“ wird zum Standard. Normale Checkups nehmen die Patienten selber vor, der Gang zum Arzt wird für immer mehr zur Ausnahme. In Zukunft kommt der Arzt zum Patienten oder beiden treffen sich digital in der Mitte.

Das Gesundheitssystem wird zu einem vernetzten Ökosystem

Prävention und Professionalisierung werden zum Mainstream. Krankheiten können mit Hilfe von Datenanalyse und Algorithmen frühzeitig erkannt und behandelt werden. Prävention betrifft in Zukunft alle Bereiche des Lebens: die Frage, wie Städte organisiert werden, wie gut die Luft ist und in welchen Schulen der Unterricht stattfindet. Gesundheitskompetenz wird zum Schlüsselbegriff, der Hausarzt zum Präventionsmediziner, der den Patienten begleitet und berät. Aus Achtsamkeit wird künftig Selbstwirksamkeit. Das Gefühl, selbst etwas zur eigenen Gesundheitsvorsorge beitragen zu können, wird zum Treiber eines individuell verantwortungsvollen Lebensstils.

Die wachsende Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen für sein persönliches körperliches, mentales und seelisches Wohlbefinden und die Nachfrage nach einem fürsorglichen System, das die gesellschaftliche Gesundheit als Ganzes verfolgt, sind kein Widerspruch, im Gegenteil: Beides kann nur gemeinsam beantwortet werden. Das Gesundheitssystem wird zu einem vernetzten Ökosystem aus neuen Akteuren wie Start-ups und Gesundheitszentren. Es entsteht ein Metaversum als kollektiver virtueller gemeinsamer Raum von Patienten, Ärzten und Gesundheitsberufen. Gesundheitsberufe werden multiprofessionell und weiblich. Im Jahr 2050 sind mehr als zwei Drittel der Ärzte Frauen. Familien- und lebensfreundliche Arbeitsbedingungen, wozu auch Homeoffice und Telemedizin gehören, sind zum Standard geworden. Die zu Beginn des Jahrhunderts befürchtete Dystopie der totalen Digitalisierung ist nicht eingetreten. Technologie bleibt künftig wichtig, wird aber nicht dominant. Menschen werden die Arbeitswelt der Zukunft prägen, nicht Maschinen.

Public Health, urbane Plattformen und neue Partnerschaften. Die Coronakrise hat gezeigt: Die globale Gesundheitspolitik muss widerstandsfähiger werden. Die Förderung der öffentlichen Gesundheit (Public Health) wird damit zur größten Herausforderung. Die „Infodemie“, das Verbreiten von falschen Nachrichten (fake news) bedroht die globale Gesundheitswelt. Falschmeldungen können lebensgefährlich sein. Prävention und Public Health sind zwei Seiten einer Medaille. Das eigene Wohlbefinden und das Wohlergehen des gesamten Planeten lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Fragen wie Landwirtschaft, Ernährung, Umwelt und Artenvielfalt sowie soziale Kontakte erweitern den Gesundheitsbegriff nach außen. Nach innen wird Einsamkeit zur neuen Volkskrankheit. Das Rezept ist die Steigerung des mentalen und sozialen Wohlbefindens. Die Menschen sind endlich bereit, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, weil sie wissen, dass schlechte Ernährung, Fettleibigkeit und mangelnde Bewegung zentrale Faktoren für viele Krankheiten und Todesfälle sind. 

Die Städte werden zu Plattformen gesunder Ökosysteme 

Zu Plattformen gesunder Ökosysteme werden die Städte. Das Konzept Stadt wandelt sich von der reinen Versorgungsumgebung zu einem Ort, der Gesundheit und Wohlbefinden aktiv fördert. Als „Healthy City“-Bewegung verpflichten sich immer mehr Städte, Gesundheit in alle wichtigen politischen Entscheidungsprozesse einzubringen. Wien gilt auf den Gebieten Lebensqualität, Wohnen und Mobilität als Vorbild für die Metropolen weltweit. Die Palette an Services ist enorm und reicht von Wohnungen für Senioren, die mit Sensoren ausgestattet werden, um Stürze zu erkennen bis hin zu Tablets, mit deren Unterstützung Senioren mit ihren Freunden in Kontakt bleiben können. Das Projekt „Kultur-Token“ verbindet Gesundheit mit Mobilität und Kultur: Mit einer App werden die Bürger spielerisch zu klimaschonendem Verhalten animiert. So können sie beispielsweise Punkte sammeln, wenn sie zu Fuß gehen oder das Rad oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Diese Punkte können sie dann in den Kultureinrichtungen der Stadt einlösen. Was 2020 in Paris begann, hat sich 2050 weltweit durchgesetzt: das Modell der „15 Minuten-Stadt“. Alle wichtigen Bedarfe wie Einkaufen, Kinderbetreuung, Arbeit, Ärzte, Kultur und Gastronomie sind heute für die Bürger innerhalb von 15 Minuten erreichbar.

Um die alten und neuen Gesundheitsprobleme zu lösen, braucht es neue Partnerschaften zwischen Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesundheitssystem. Es geht um Partnerschaften, die weniger hierarchisch und stärker teamorientiert auf Augenhöhe miteinander agieren. „Teamplay“ wird zum Motto einer vernetzten und sektorenübergreifenden Gesundheitswelt. 

Die Corona-Pandemie kann zum Game Changer werden 

Aus der Gesundheitskatastrophe des Jahres 2020 kann ein Game Changer werden. Innovationssprünge und Veränderungen werden möglich, die vorher kaum denkbar waren. Gesundheit wird individuell und öffentlich, digital und vernetzt, präventiv und personalisiert, global und lokal, effizient und solidarisch. Eine medizinische Grundversorgung für jeden und überall braucht eine starke und solidarische Weltgesundheitsorganisation, eine stärker koordinierende europäische Gesundheitspolitik sowie effektiv funktionierende Regionen und Städte. Europa wird zur Gesundheitsunion.

Zum zentralen Gesundheitswert wird Resilienz. Gemeint ist die Fähigkeit, plötzliche Schocks wie eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe zu überstehen. Die „Corona-Pandemie“ stellt die bislang größte Bedrohung für die globale Gesundheit dar. Wir sind längst eine „immunologische Risikogemeinschaft“ (Peter Sloterdijk). Was in einem kleinen, entlegenen Ort der Welt passiert, hat unmittelbare Folgen für uns alle. Die globale Gesundheitswelt wird zum Dorf. Ihre Bewohner werden zum Kompetenzzentrum für das eigene Wohlergehen und des gesamten Systems Erde.

Dr. Daniel Dettling ist Zukunftsforscher und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Corinna Mühlhausen, Diplom-Kommunikationswirtin der Universität der Künste Berlin, ist seit mehr als 20 Jahren in der Trend- und Zukunftsforschung tätig. Für das Zukunftsinstitut erstellt sie den jährlich erscheinenden „Health Report“.

Der Text basiert auf den Ergebnissen des Trendreports „Gesundheitswelt 2049: Ein Navigator für die Zukunft“, der heute vorgestellt wird. 

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