Selten bewegt ein Gesundheitsthema so sehr die Gemüter wie das der Organspende. Die Debatten werden kontrovers und häufig emotional geführt. Religiöse, gesellschaftliche und familiäre Überzeugungen verbinden sich mit oft begrenzter Sachkenntnis. Eine generelle Skepsis gegenüber der Transplantationsmedizin selbst ist spürbar.
Dieses komplexe Spannungsfeld ist verständlich, denn es geht dabei um nicht weniger als Selbstbestimmung, Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, sowie grundlegende ethische und moralische Fragen zu Leben und Tod.
Mit Blick auf die Zahlen der postmortalen Organspende muss man jedoch mutmaßen, dass die Diskussion im engsten Kreis der Familie und im öffentlichen Raum zu selten oder nicht ausreichend geführt wird. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar. Fragen, die mit dem eigenen Tod oder dem der Angehörigen in Berührung stehen, sind vielen Menschen unangenehm und bleiben darum oft unangetastet. Trotzdem sollte diese Debatte geführt werden – im Kleinen wie im Großen.
Menschen auf der Warteliste brauchen Solidarität
Es ist nicht hinnehmbar, dass das Unbehagen, das Menschen im Umgang mit Fragen zum Lebensende pflegen, das Leben anderer gefährdet. Werden wir uns bewusst: die Menschen auf der Warteliste sind real existent. Es sind Kinder, Mütter, Väter, Nachbarn, Freunde. Sie warten vergeblich, ohne dass ihnen geholfen werden kann. Und sie sterben, jeden Tag. Wir dürfen das nicht einfach hinnehmen. Sie sind Teil unserer Gemeinschaft und sie brauchen unsere Solidarität. Denn es geht nicht allein um das Geben. Wir alle können jederzeit unvorhergesehen in eine Situation kommen, in der wir das Organ eines anderen Menschen benötigen, um unser eigenes Leben zu retten.
Eine vielfach zitierte repräsentative Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2022 zeichnet eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der Organspende als solcher. Dieser Befürwortung durch die Befragten muss ein Tätigwerden von Millionen von Bundesbürgerinnen und -bürgern folgen. Wir alle müssen Verantwortung für dieses Thema übernehmen. Verantwortung für die Solidargemeinschaft und Verantwortung für uns selbst.
Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss jede und jeder von uns eine informierte Entscheidung treffen können, die eine dokumentierte Zustimmung oder Ablehnung der Spende-Bereitschaft erlaubt. Aktuell stehen mangels dokumentierten Willens meist die Angehörigen vor der belastenden Situation, eine Entscheidung für oder gegen die Organentnahme am Lebensende eines geliebten Menschen treffen zu müssen.
Gesellschaftlicher Dialog
Dafür müssen wir in einem ersten Schritt miteinander ins Gespräch kommen: in der Familie, im Sportverein, in Schule und Arbeit. Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Dialog, an dem sich jede und jeder beteiligt. Vorbehalte und Motivationen müssen benannt und sachlich diskutiert werden. Flankierend dazu brauchen wir eine Aufklärung, die alle Menschen in unserem Land erreicht. Sie muss bedürfnis- und lebensweltenorientiert sein und der Vielfalt in unserer Gesellschaft gerecht werden.
Im besten Fall erreichen wir damit, dass sich ein Verständnis für die Organspende als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe etabliert. Und dass die wiederholt benannte Kultur des Spendens wirklich gelebt wird – ohne die Akzeptanz derer zu vernachlässigen, die sich aus persönlichen Gründen gegen eine Spende aussprechen.
Bei Lichte betrachtet braucht es dafür jedoch Zeit. Zeit, die wir nicht haben. Wir müssen jetzt aktiv werden, um Menschenleben zu retten. Es ist an der Zeit, beherzte Reformen auf den Weg zu bringen. Reformen, die den Anstoß dafür geben, dass wir uns mit den Fragen rund um das Lebensende auseinandersetzen. Reformen, die bewirken, dass die Frage nach der Eignung für eine Organspende keine Ausnahme darstellt, sondern regelhaft in das Kontinuum der Patientenversorgung integriert wird. Wir brauchen eine Regelung, die die beste Lösung für alle ist. Eine Lösung, die niemandem schadet und allen hilft. Eine Lösung, die Gerechtigkeit verspricht und uns echte Solidarität leben lässt.
Kein Allheilmittel für den Organmangel
Organspende ist eine sehr persönliche Frage. Meine Haltung insbesondere als Bundestagsabgeordneter, der voraussichtlich bald über diese Frage mitentscheiden soll, ist klar: alle Argumente abwägend, halte ich die Widerspruchsregelung für die richtige, um Rechte zu wahren und zugleich mehr Menschen die Chance auf ein neues Leben zu geben.
Mir ist die Tragweite einer solchen Regelung durchaus bewusst. Ich weiß auch, dass sie nicht das Allheilmittel für den Mangel an Spenderorganen ist. Sie schafft jedoch einen rechtlichen Rahmen, der Transparenz und Klarheit schafft, und damit den Grundstein zur Verbesserung struktureller Defizite legt. Die Widerspruchsregelung ist ein fassbares Instrument, das in anderen europäischen Ländern eine breite Zustimmung in der Bevölkerung gefunden und seine Machbarkeit bewiesen hat. Die Initiative der Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus allen demokratischen Fraktionen heraus zeigt, dass die Widerspruchsregelung auch bei uns an der Zeit ist.
Diese mögliche Änderung der aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen bedeutet jedoch nicht, dass wir in Bezug auf Prozess und Strukturfragen untätig bleiben können. Im Gegenteil. Eine kritische Evaluierung der Spendererkennung in den einzelnen Kliniken muss systematisch und schnellstmöglich erfolgen. Dafür bedarf es einer koordinierenden Stelle und die Bereitschaft der Kliniken, ihre Prozesse transparent zu machen. Diese Evaluation ist das Schlüsselelement einer vertrauensbildenden Maßnahme auf dem Weg zu einem verbesserten Organangebot im gesamten Bundesgebiet. Auch die Erweiterung des europäischen Allokationsraumes über die Grenzen des heutigen Eurotransplant-Bereiches hinaus ist sie von zentraler Bedeutung.
Mehr Handlungskompetenz
Eine entscheidende Rolle nehmen auch die Transplantationsbeauftragten an den Kliniken ein. Sie sind das lokale Verbindungsglied zu einem überregionalen Netzwerk. Sie sichern den Zugang zu den Transplantationssystemen und fördern deren Effizienz. Wir müssen ihre Position stärken und ihnen mehr Handlungskompetenz geben. Sie brauchen eine Lobby und eine starke Vernetzung untereinander – damit Qualität in der Behandlung nicht nur gesichert, sondern auch weiterentwickelt werden kann. Dafür müssen wir sie mit allen notwendigen und personellen Ressourcen ausstatten, die ein Funktionieren des Systems garantieren.
Selbstredend müssen wir Innovationen und Wissenschaft fördern. Vielleicht gelingt es uns eines Tages, dass Wartelisten zu einer anekdotischen Erzählung werden, weil verschiedene Formen von Organversagen vermieden oder anders behandelt werden können. Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Leisten wir bis dahin alle unseren Beitrag, treten wir in den Dialog. Entscheiden wir mit und für unsere Solidargemeinschaft. Für eine Gesellschaft, in der es Perspektiven gibt und die Hoffnung auf eine Behandlung Wirklichkeit wird. Nehmen wir Erkrankungen den Schrecken und spenden Leben.
Stefan Schwartze ist SPD-Bundestagsabgeordneter und seit Januar 2022 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten. Er unterstützt eine fraktionsübergreifende Initiative, die die Einführung der Widerspruchsregelung in Deutschland fordert.