Eine Nationale Sicherheitsstrategie ist überfällig. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Deutschland ist international gefordert wie kaum zuvor in seiner Geschichte. Russland führt einen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und bedroht die europäische Friedensordnung. Chinas Machthunger ist groß, das Regime reagiert immer öfter aggressiv: Die kommunistische Diktatur wird von einem wirtschaftlichen Partner mehr und mehr zu einem systemischen Rivalen. Und gleichzeitig gefährden Terroristen und Cyberkriminelle tagtäglich unsere nationale Sicherheit.
Deutschland ist zwar weiterhin von Freunden und Wertepartnern umgeben, wird aber gleichzeitig von Feinden der Demokratie global immer stärker gefordert. Eine neue Weltordnung ist im Werden: der Westen und die freie Welt gegen China und Russland. Und auf welche Seite sich der globale Süden schlägt, ist längst nicht entschieden.
Äußere Sicherheit durch Innere Sicherheit
Als entschlossene Reaktion darauf brauchen wir dringend eine Nationale Sicherheitsstrategie. Sie muss Bedrohungen und Risiken analysieren, zueinander ins Verhältnis setzen und gewichten. Sie muss Antworten auf die bedrohliche Weltlage finden: Was sind Deutschlands Interessen? Wie verfolgen wir sie? Welche Werte leiten uns dabei? Wie hoch ist unser Einsatz? Wie werden wir abschreckungsfähig, verteidigungsfähig und resilient? Wie erfüllen wir unseren Anspruch, eine europäische Führungsrolle einzunehmen? Was ist unsere Rolle in der Welt? Und wie machen wir die EU zu einer geopolitischen Macht?
Das Fundament für ein kluges Sicherheitskonzept ist allerdings nicht allein der Blick nach außen, sondern vor allem die innere Verfasstheit. Wer im Innern freiheitlich demokratisch aufgestellt ist, vertritt dies auch mit Autorität und Akzeptanz nach außen. Wer die Sicherheit der eigenen Bevölkerung gewährleistet, kann Geld, Personal und andere Ressourcen für die Sicherheit weltweit bereitstellen. Wer Kritische Infrastrukturen zu Hause schützt, wer gewappnet ist gegen Naturkatastrophen und Folgen der Klimakrise, der hat auch die Kraft, widerstandsfähig und wehrhaft nach außen zu sein.
Die Bundesregierung muss jetzt umgehend handeln, denn ihre Tatenlosigkeit droht, fatale Auswirkungen zu verursachen. Und vor allem darf sie nicht den Fehler machen, sich ausschließlich oder vordringlich auf Fragen der internationalen Sicherheit zu konzentrieren. Äußeres Selbstbewusstsein entsteht durch innere Stärke. Und für diese innere Stärke sind in erster Linie die deutschen Länder verantwortlich. Das ist ihre originäre Aufgabe.
Die Erfahrung der Länder einbeziehen
Dies ist kein Plädoyer für Besitzstandswahrung, sondern der Appell zur intensiven Zusammenarbeit. Die Bundesländer haben jahrzehntelange Erfahrung in nationaler Sicherheit: Die Gefahrenabwehr im Inland ist grundsätzlich Aufgabe der Länder. Und die erfüllen sie kompetent und erfolgreich. Unsere Bürgerinnen und Bürger leben in einem der sichersten Länder der Welt, weil Polizistinnen und Polizisten, Feuerwehrleute, Verfassungsschutzämter und Katastrophenschutzbehörden der Kommunen und Länder seit Jahrzehnten hervorragende Arbeit leisten.
Allerdings nutzt die Bundesregierung diese Erfahrung und Kompetenz der Bundesländer in der polizeilichen und nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr nicht, um eine Sicherheitsstrategie aus einem Guss zu entwickeln. Die Sicherheitsstrategie ist deshalb bisher eine Bundessicherheitsstrategie, entwickelt in Berliner Amtsstuben, keine Nationale Sicherheitsstrategie, als Summe aller Erfahrungen und Kompetenzen in ganz Deutschland. Selbst die einstimmige und überparteiliche Forderung der Innenministerkonferenz, in den proklamierten „intensiven Dialogprozess“ einbezogen zu werden, verhallte reaktionslos.
Das Globale mündet im Lokalen
Das ist nicht nur ein Affront gegen die bewährte und erfolgreiche föderale Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, sondern vor allem unklug und gefährlich obendrein. Denn die Länder sind wichtiger denn je: Es gibt in vielen Bereichen nicht mehr die Innere Sicherheit und die Äußere Sicherheit. Beim internationalen Terrorismus, bei der Organisierten Kriminalität, bei der Cybersecurity sowie im Zivil- und Katastrophenschutz verschmelzen die Sphären. Internationale Bedrohungen haben konkrete nationale Auswirkungen – bis ins Lokale hinein.
Die Kommunen und Länder kennen die Situation vor Ort am besten. Wo sind die Schwachstellen Kritischer Infrastruktur? Wo treten Extremwettereignisse und Überflutungen auf und wie wappnen wir uns am besten dagegen? Wo sind die Kriminalitätshotspots und warum? Wen und wie sensibilisieren wir für Cyberattacken, Wirtschaftsangriffe, Sabotage und Spionage? Wie setzen wir die über Jahre aufgebauten umfassenden Kompetenzen der Länder in der Cybersicherheit ein?
Anstöße für Kooperation von Bund und Ländern
Es sind starke Instanzen auf Ebene des Bundes und der Länder notwendig, um den vielschichtigen Bedrohungen zu begegnen. Drei konkrete Beispiele:
1. Cybersicherheit: Es wäre falsch, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) so auszubauen, dass Länderkompetenzen auf diesem Feld beschnitten würden. Vielmehr bedarf die Cybersicherheit als übergreifendes Phänomen einer regelmäßigen und engen Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Dafür hat sich das Nationale Cyberabwehrzentrum bewährt. Dieses Zentrum müssen wir angesichts der aktuellen Bedrohungslage weiter ausbauen. Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte dazu beitragen, in der deutschen Cybersicherheit einander ergänzende, komplementäre Strukturen aufzubauen.
2. Asylmigration: Die Flüchtlingssituation belastet unsere Kommunen bis an die Grenze. Die Sicherheit und Stabilität Deutschlands hängen davon ab, dass wir sie in den Griff bekommen. Ein faires, funktionierendes und krisenfestes Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) ist der entscheidende Schlüssel dazu. Als Hauptzielland von Asylmigration in Europa braucht Deutschland Fortschritte auf dem Weg zu einem neuen GEAS, das auf einer solidarischen Lastenteilung basiert. Auch dieses Thema gehört als zentrales Element in eine Nationale Sicherheitsstrategie.
3. Der Bevölkerungsschutz gewinnt aufgrund der Klimakrise und der Extremwetterereignisse immer stärker an Bedeutung. Die Länder leisten hier einen wichtigen Beitrag, indem sie für eine zeitgemäße Ausstattung des Katastrophenschutzes sorgen – und für seine Finanzierung. Aber nur wenn auch der Bund bereit ist, substanzielle Haushaltsmittel in den Bevölkerungsschutz zu investieren, werden wir in der Lage sein, die neuen Herausforderungen im Zivil- und im Katastrophenschutz zu meistern. Es ist Zeit, dass auch der Bund endlich angemessen Verantwortung für den Bevölkerungsschutz übernimmt. Die Länder haben daher auf der Innenministerkonferenz Bundesmittel von rund zehn Milliarden Euro innerhalb der nächsten zehn Jahre für einen „Stärkungspakt Bevölkerungsschutz“ gefordert.
Diese drei Beispiele zeigen: Zeitenwende bedeutet nicht nur die dringend erforderliche Stärkung der Bundeswehr, sondern einen ganzheitlichen Schutz nach außen wie innen.
Nationaler Sicherheitsrat als Drehkreuz
Kommunikation und Kooperation, Investitionen und Informationen sind das Gebot der Stunde. Nicht Alleingang, Abkapseln und Außenvorlassen.
Unerlässlich für all das ist ein Nationaler Sicherheitsrat. Es braucht einen Ort, an dem die Fäden zusammenlaufen, der Akteure und Aktionen koordiniert, der strategisch vorausschaut, der in Krisen steuert, der Lagebilder erstellt und der die Sicherheitsstrategie bei Bedarf weiterentwickelt. Eine Nationale Sicherheitsstrategie ist nicht statisch, sondern dynamisch. Sie muss auf neue Bedrohungslagen reagieren können – wie den Krieg gegen die Ukraine. Teil des Nationalen Sicherheitsrates müssen natürlich auch die Länder sein.
Eine Nationale Sicherheitsstrategie ohne die Länder ist wie die Nato ohne die USA – sinnlos, kraftlos, wirkungslos. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Bundesländer zu beteiligen, denn eine Nationale Sicherheitsstrategie, die diesen Namen auch verdient, wird nur gemeinsam gelingen.
Boris Rhein (CDU) ist Ministerpräsident des Landes Hessen.