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Standpunkte Spur der Trümmer im Nanobits-Krieg

Kobi Leins, Honorary Senior Fellow des Department of War Studies am King's College in London
Kobi Leins, Honorary Senior Fellow des Department of War Studies am King's College in London Foto: Kobi Leins

Nanomaterialen mit möglicherweise toxischen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und Ökosystemen zählen zu den langfristigen Folgen des Krieges. Kobi Leins hält eine Wiederbelebung des Umweltkriegsübereinkommen gerade in Zeiten hochtechnisierter Konflikte für geboten.

von Kobi Leins

veröffentlicht am 06.07.2022

aktualisiert am 07.07.2022

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Als ein nicht enden wollender Nachschub an Waffen in die Ukraine strömte, damit sich diese überhaupt gegen die anhaltenden Angriffe Russlands verteidigen konnte, war es sehr einfach – und völlig gerechtfertigt – sich zunächst auf die ganz unmittelbaren Auswirkungen und Folgen der Invasion zu konzentrieren, insbesondere auf die Menschen und ihr offensichtliches Leid.

Die Welt sah mit Entsetzen zu, wie immer wieder zivile Ziele getroffen wurden, Zivilist:innen keinen Schutz erhielten und Waffen in unverhältnismäßigen Angriffen zur Einschüchterung und Verwüstung eingesetzt wurden. Viele dieser Waffen, darunter auch Cybersysteme, wurden abgefangen, gehackt, zerstört oder zur Explosion gebracht, bevor sie missbraucht werden konnten. Alle bleiben in irgendeiner Form physisch in der Umwelt zurück und hinterlassen eine Spur von Trümmern, deren Ausmaß nur schwer zu erfassen ist.

Längerfristigen Auswirkungen durch Nanomaterialen

Die in der Medienberichterstattung gezeigten Trümmer sind die Waffen, die wir sehen können. Zusätzlich zu den Panzern, Granaten und übermäßig energieintensiven Ressourcen, die bei diesen Angriffen eingesetzt werden, gibt es auch solche, die man nicht sehen kann: Materialien auf der „Nanoskala”.

Nanomaterialien, abgeleitet vom griechischen Wort für Zwerg, sind Materialien im kleinsten physikalischen Maßstab, die für das menschliche Auge oder sogar für optische Geräte mit hoher Vergrößerung unsichtbar sind. Zu diesen Materialien gehören Werkzeuge, die Anwendungen wie Cyberkommunikation, verbesserte Batterielebensdauer, verbesserte militärische Ausrüstung oder Schutz und fortschrittliche Fotovoltaik ermöglichen. Sie können auch Aerosolbomben verbessern - obwohl es scheint, dass Russland bisher eher traditionelle Aerosolsprengstoffe statt nanoverbesserter Aerosolbomben im Einsatz hat.

Wenn nanoskalige Materialien in der Natur vorkommen, z. B. in der Gischt des Meeres oder in Milch, hatte unser Körper Zeit, sich an diese Materialien zu gewöhnen. Vom Menschen hergestellte Nanomaterialien bergen jedoch Risiken, von denen wir erst jetzt zu verstehen beginnen.

Viele Expert:innen machen sich jetzt Gedanken über die längerfristigen Auswirkungen des anhaltenden Konflikts. Was passiert, wenn die Lebensmittel, die Ukraine normalerweise liefert, nicht mehr produziert werden können? Wenn der weltweit exportierte Dünger nicht verfügbar ist? Was wird mit den Versorgungsketten und Lebensmittelquellen geschehen? Was passiert mit der Produktion von Alltagsgegenständen? Während sich viele auf die sichtbaren Engpässe in den Versorgungsketten und der Produktion konzentrieren, droht eine andere, potenziell längerfristige Krise.

ENMOD, das Umweltkriegsübereinkommen

Kriege verursachen immense Mengen an Abfall und hinterlassen oft eine verwüstete Umwelt. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Einsatz von Agent Orange durch die Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg, mit dem das Laub von den Bäumen entfernt wurde, um die Deckung und Beweglichkeit des Feindes zu zerstören. In einigen Fällen wurden absichtlich Nahrungsquellen verseucht. Weniger bekannt ist, dass die US-Luftwaffe zwischen 1963 und 1972 bei Operationen, die die Regenzeit verlängern sollten, auch Wolken „säte”, um den Soldat:innen am Boden das Leben unangenehm und das Befahren unbefestigter Straßen unmöglich zu machen. Daraufhin schlossen sich die Staaten zusammen, um das „Übereinkommen über das Verbot des militärischen oder sonstigen feindseligen Einsatzes von Techniken zur Veränderung der Umwelt” (Convention on the Prohibition of Military or Any Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques) auszuhandeln, das am 10. Dezember 1976 zur Unterzeichnung aufgelegt wurde: Die ENMOD-Konvention, das sogenannte Umweltkriegsübereinkommen. Das letzte Mal, dass Staaten an einer Überprüfungskonferenz für ENMOD teilnahmen, war 1992, und viele Staaten und Diplomat:innen scheinen die Existenz des Übereinkommens vergessen zu haben.

Potenziell toxische Auswirkungen „ewiger" Materialien

Viele dieser Nanomaterialien, die in der Kriegsführung eingesetzt werden, sind „ewige" Materialien, die später in jedem einzelnen Menschen zu finden sind, da sie sich in Körpern ablagern. Ein Beispiel dafür sind Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS), die aufgrund ihrer hochgradig krebserregenden Eigenschaften zunehmend in Lebensmittelverpackungen und anderen zivilen Anwendungen verboten werden. Auf dem Schlachtfeld und in Militärbasen werden sie jedoch weiterhin verwendet. Die Kontaminationsrisiken sind weder fern noch weit weg – sie sind in und um viele Militärstützpunkte herum direkt nachweisbar – und betreffen Zivilist:innen und Militärangehörige gleichermaßen.

Zunehmend werden Informationen über die potenziell toxischen Auswirkungen vieler Nanomaterialien verfügbar. Potenziell giftige Reststoffe, die während oder nach einem Krieg in den Grundwasserspiegel und die Nahrungskette gelangen, lagern sich in menschlichen Körpern auf der ganzen Welt an, sind schwer zu erkennen und praktisch unmöglich zu diagnostizieren. Dies verstößt gegen das Menschenrecht auf saubere Nahrung und sauberes Wasser – aber wer kümmert sich darum? Wo sind die Vorschriften in den Militärhandbüchern? Diese „ewigen" Nanomaterialien können mit den derzeitigen Technologien weder entfernt noch neutralisiert werden.

Wiederbelebung des ENMOD-Übereinkommens

Dies ist ein Element des Umwelt- und Menschenschutzes, das viel zu lange übersehen wurde und das von der Weltgemeinschaft stärker beachtet werden muss. Die Umwelt unterscheidet nicht zwischen Krieg und Frieden – ebenso wenig wie die potenziell tödlichen Nanomaterialien, die wir für den Krieg herstellen und weiterhin im Krieg verwenden.  In militärischen Handbüchern und Anweisungen, die auf jedem Schlachtfeld angewandt werden können, müssen praktische Regeln und detaillierte Anleitungen für diese Materialien enthalten sein. Es besteht sogar Anlass, die Verwendung bekannter toxischer Nanomaterialien möglicherweise zu verbieten (und zumindest aufzulisten).

Das ENMOD-Übereinkommen muss dringend wiederbelebt und gestärkt werden – zehn Staaten müssten sich zusammentun, um wieder Schwung in die Sache zu bringen – und um die schwerwiegenden Umweltschäden, die durch Kriege entstehen, zu begrenzen.

Die Zeit für einen verstärkten Schutz unserer Umwelt während der Kriegsführung – neben dem Diskurs über die Klimakrise – ist jetzt gekommen. Wir haben keine Zeit, weitere Ressourcen – und uns selbst – potenziell dauerhaft und exponentiell zu vergiften. Zur Sicherheit gehört auch die Sicherheit von Nahrung und Wasser – und das ist mehr als nur eine Frage im Cyberspace. Es ist auch eine Frage der Materialien, die wir in der physischen Welt verwenden.

Kobi Leins ist Honorary Senior Fellow des Department of War Studies am King's College in London und u.a. Non-Resident Fellow des Instituts der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung in Genf. Zuvor leitete Leins Programme und Teams in den Bereichen Verwaltungsrecht, Menschenrechte und Abrüstung bei der UNO und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz.

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