Ich arbeite in einem Start-up, das den Namen „optiGov“ trägt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, Verwaltungen über deren Webseiten zugänglicher für den Bürger zu machen. Außerdem wollen wir bei „optiGov“ Prozesse innerhalb der Organisationen mit Hilfe von Software effizienter gestalten, etwa mit einem Bürgerportal, einer Online-Terminvereinbarung und weiteren Werkzeugen für städtische und kommunale Webseiten. Aus diesem Grund ist es Teil meines Arbeitsalltags geworden, mich mit der digitalen Landschaft im öffentlichen Sektor auseinander zu setzen – und die ist, vorsichtig formuliert, sehr unübersichtlich.
Kernaufgabe eines Bürgerportals ist die Darstellung von Einrichtungen, Mitarbeitern und Dienstleistungen einer Verwaltung, das digitale Einreichen von Anträgen und die sichere Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltungsmitarbeitern. Da es in vielen Städten, Kommunen und Kreisen bereits Anwendungen für zum Beispiel die Benutzerverwaltung oder die Erstellung digitaler Formulare gibt und Bundesländer bereits eigene Servicekonten haben, gilt es, diese mit Hilfe von Schnittstellen anzubinden. Als junger Entwickler, der seine Erfahrung in einer internationalen Gemeinschaft zwischen Entwicklern aus der gesamten Welt mit offenen Standards und Protokollen, Open-Source-Software und einem guten Diskurs machen konnte, bin ich von den Zuständen und Herangehensweisen bei technischen Themen und Aufgaben innerhalb des öffentlichen Sektors in Deutschland verwirrt und enttäuscht.
Eine fortschrittsfeindliche Dynamik
Während unserer Zusammenarbeit mit Kommunen aus unterschiedlichen Bundesländern, musste ich immer wieder feststellen, dass andere Softwareanbieter oft keine (modernen) Schnittstellen anbieten und teilweise auch gar nicht bereit sind, den Datenaustausch zwischen Anwendungen zu ermöglichen. Dabei würde dies Verwaltungen und deren Mitarbeitern die Arbeit erleichtern und Arbeitsabläufe optimieren.
Neben fehlenden Bestimmungen und gesetzlichen Regelungen bezüglich des Austauschs von Daten, gibt es kaum einheitliche Formate zur Übermittlung. So steht es Anwendungen und Diensten in den meisten Fällen frei, wie und in welcher Form sie ihre Daten zur Verfügung stellen. Das sorgt für einen erheblichen Mehraufwand bei der Implementierung und Anbindung verschiedenster Systeme und – was in meinen Augen noch viel wichtiger ist – verhindert schnelle und effiziente Entwicklungsfortschritte. Für ein Start-up ist es sehr unattraktiv, in ein unübersichtliches Ökosystem einzusteigen und in Innovation zu investieren, wenn unklar ist, ob die entwickelte Technologie durch zukünftige Entscheidungen und Regulatorien obsolet gemacht werden könnte.
Eine sehr fortschrittsfeindliche Dynamik nimmt das Ganze auf Ebene der landesweiten Lösungen für Bürgerkonten an. Jedem der 16 Bundesländer ist es freigestellt, eine eigene Lösung zu entwickeln. Daher wird der Aufwand für die Realisierung der Dienste, die in allen Ländern die selbe Aufgabe erfüllen sollen, bis zu 16 Mal betrieben. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine einheitlichen Regelungen für Technologien, Schnittstellen und Datenformate gibt.
Entsprechend weicht der Funktionsumfang der Lösungen von Land zu Land ab. So verwendet zum Beispiel Nordrhein-Westfalen OAuth2.0 mit Open-ID-Connect-Erweiterung als Standard und bietet ein digitales Postfach an, welches zum aktuellen Zeitpunkt nur in eine Richtung (von der Verwaltung zum Bürger) bespielt werden kann. Das Land Niedersachsen hingegen baut bei seinem Bürgerkonto auf SAML als Standard auf, welches ein anderes Protokoll, ein anderes Datenformat und eine andere Zertifizierung benötigt. Hier ist ein Postfach mit bidirektionaler Kommunikation integriert.
Verwirrung und Unsicherheit auf allen Seiten
Diese Umstände machen es kompliziert – und somit zeitaufwändig und kostenintensiv – Lösungen für alle Verwaltungen anbieten zu können und sorgt so für Verwirrung und Unsicherheit, sowohl bei den Verwaltungen als auch bei den Softwareanbietern. Um dem noch einen oben drauf zu setzen, kommen Initiativen wie die Bund ID (oder auch „Nutzerkonto Bund“) hinzu. Diese soll ebenfalls eine ähnliche Funktionalität auf Bundesebene bieten, kann bislang aber noch nicht produktiv angebunden werden.
Dieser Einblick ist leider nicht die Ausnahme als viel mehr ein Exkurs in die aktuelle deutsche Digitalisierungslandschaft. Viele der geschilderten Punkte treffen auf ähnliche Projekte, wie die Landes- und Bundesportale (für den Portalverbund), ebenfalls zu. Aus Entwickler- und auch Bürgerperspektive frage ich mich, welche rationalen Gründe diese Entscheidungen rechtfertigen und was man sich von diesem Ansatz verspricht.
Zwar eröffnet Diversität Chancen für private Anbieter am Markt, doch im Falle des öffentlichen Sektors erscheint sie eher kontraproduktiv. Sie wirkt wie ein Umweg zu Lösungen, die letztendlich am effektivsten funktionieren, wenn sie transparent definiert und implementiert werden und alle beteiligten Akteure einheitlich vernetzen können. Finanziell geht dies, wie so oft, zu Lasten des Steuerzahlers. In kleineren Verwaltungen, in denen sowieso schon Ressourcenmangel herrscht, sorgt es für unnötigen Aufwand und zusätzliche Belastung der Angestellten.
Estland macht es vor
Es geht allerdings auch anders! Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einen Einblick in die Digitalisierungsprozesse anderer EU-Länder zu bekommen. Estland zum Beispiel setzt neben einem offenen Standard auch auf einheitliche Open-Source-Software für digitale Abläufe rund um öffentliche Prozesse. Offene und klar definierte Standards, Schnittstellen und Formate sind in meinen Augen nicht nur einer der besten Grundsteine für eine nachhaltige Digitalisierung, sondern auch ein Muss für eine vertrauensvolle digitale Landschaft in Deutschland, welche dem Bürger gegenüber maximale Transparenz und Softwareentwicklern einen sicheren Raum für Innovation und Fortschritt bietet.
Es ist mir nicht wichtig, hier für eine bestimmte Schnittstelle, eine Software oder einen Standard Partei zu ergreifen – ganz im Gegenteil. Ich würde mir wünschen, dass diese einheitlich und bundesweit verbindlich in Zusammenarbeit zwischen den Behörden aber auch etablierten Unternehmen und vor allem innovativen Start-ups geschaffen werden, um so die Lücke zwischen Konzeption und Realität zu schließen, mehr Kompetenz und Know-how einfließen zu lassen und viel Raum für Innovation und Veränderung zu ermöglichen.