In der Coronakrise verschwindet selbst ein so wichtiges Thema wie die Nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung fast vom Radar. Dabei geht es um richtungsweisende Entscheidungen: für oder gegen blauen Wasserstoff aus fossilem Gas, für oder gegen eine Förderung von Wasserstoff und E-Fuels im Straßenverkehr. Und auch: für oder gegen Anstrengungen, europäische CO2-Gesetzgebung zu unterminieren.
Letzteres wäre fatal. Im Windschatten der Coronakrise erleben wir einen Großangriff auf den Klima- und Umweltschutz. Gerade im Verkehrssektor wird er besonders vehement geführt. Weltweit nutzen Öl- und Autolobby die Krise, um klimafreundliche Verkehrspolitik zu torpedieren oder bereits beschlossene Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. Die FDP fordert offen eine Aussetzung der europäischen CO2-Flottengrenzwerte für Neuwagen – dem europaweit entscheidenden Instrument zur Emissionsreduktion im Straßenverkehr. Der europäische Automobilverband Acea wirbt bei der EU-Kommission für „einige Anpassungen“ bei den Zeitplänen der CO2-Gesetzgebung.
Wirtschaftsministerium macht sich für Anrechnung stark
Aber womöglich sind die weniger offensichtlichen Vorstöße noch gefährlicher. Paradebeispiel ist der Versuch, „emissionsarme“ Kraftstoffe wie Wasserstoff und E-Fuels auf die CO2-Flottengrenzwerte anzurechnen. Der VDA wirbt massiv dafür, ebenso die deutsche Ölindustrie. Auch das Bundeswirtschaftsministerium macht sich im Rahmen der Wasserstoffstrategie dafür stark.
Vor dem Hintergrund der Corona-Krise mag dies als moderates Zugeständnis an die gebeutelte Autoindustrie erscheinen. De facto handelt es sich aber um eine schwerwiegende Abschwächung eines effektiven Klimaschutzinstruments zugunsten einer Scheinlösung – ein Rezept für mehr Klimaschutz auf dem Papier und weniger Klimaschutz in der Realität. Eine Anrechnung synthetischer Kraftstoffe auf die CO2-Grenzwerte würde die Autoindustrie aus der Verantwortung entlassen, konsequent auf sparsame und vor allem elektrische Fahrzeugtechnologien umzusteigen.
Der Einsatz von Wasserstoff und E-Fuels bringt den Klimaschutz im Straßenverkehr nicht voran, im Gegenteil. Um synthetische Kraftstoffe klimafreundlich herzustellen, sind gigantische Mengen zusätzlichen erneuerbaren Stroms und die Gewinnung von CO2 aus der Luft nötig – beides Zukunftsmusik. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, sind diese Kraftstoffe unter dem Strich schnell klimaschädlicher als fossiler Sprit. Denn wenn der enorme Strombedarf andernorts durch verstärkte fossile Stromnutzung ausgeglichen wird oder sich die industrielle Dekarbonisierung aufgrund der Weiterverwendung von CO2 aus Verbrennungsprozessen verlangsamt, entstehen insgesamt hohe Mehremissionen. Das gilt bei Produktion im In- wie im Ausland.
CCS ist riskant, teuer und unpopulär
Die Bundesregierung ist indes sogar uneins über die grundlegende Tatsache, dass nur grüner Wasserstoff auf Basis erneuerbaren Stroms eine nachhaltige Option ist. Das Wirtschaftsministerium forciert den Einsatz von blauem Wasserstoff aus fossilem Erdgas, bei dem mittels Carbon Capture and Storage (CCS) CO2 abgetrennt und unterirdisch gelagert wird. CCS ist riskant, teuer, unpopulär und verlängert die Nutzung von fossilem Gas, bei dessen Förderung hohe Vorketten-Emissionen entstehen – eine Scheinlösung par excellence.
Das Potenzial synthetischer Kraftstoffe zum Klimaschutz steht und fällt mit den Produktionsbedingungen. Aktuell gibt es weder die nötigen regulatorischen Rahmenbedingungen noch die industriellen Kapazitäten, um die erforderlichen Standards sicherzustellen. So besteht die Gefahr, dass klimaschädliche Geschäftsmodelle hochlaufen – und aus dem Biokraftstoff-Desaster wissen wir, dass solche Fehlentwicklungen kaum noch korrigiert werden können: Trotz nachträglich eingeführter Nachhaltigkeitsstandards trägt Biosprit weiter massiv zum Raubbau an tropischen Wäldern bei.
Es gibt Sektoren, in denen der Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff und E-Fuels mangels Alternativen ergänzend zur Emissionsreduktion beitragen kann. Hierzu zählen die Stahlindustrie, der Langstrecken-Flugverkehr sowie die Seeschifffahrt. Der Straßenverkehr gehört nicht dazu. Denn die Elektromobilität hat zwei unschlagbare Vorteile gegenüber synthetischen Kraftstoffen: Sie ist um ein Vielfaches energieeffizienter und im Gegensatz zu hypothetischem klimaneutralen H2 oder E-Fuels eine jetzt vorhandene, skalierbare Technologie. Gerade weil in anderen Sektoren die Elektrifizierung nicht möglich ist und synthetische Kraftstoffe dort gebraucht werden, müssen Nutzungskonkurrenzen minimiert und der Einsatz von Wasserstoff und E-Fuels vor allem im Pkw-Verkehr ausgeschlossen werden. Diese Argumentation gilt übrigens auch für Gebäudewärme: Auch hier gibt es bessere Alternativen.
Oft wird angeführt, dass es für die Dekarbonisierung des Fahrzeugbestands keine Alternative zu E-Fuels gebe. Aber die Betankung von Millionen von Verbrennerfahrzeugen mit E-Fuel aus zusätzlich generiertem erneuerbaren Strom und CO2 aus der Atmosphäre ist reine Theorie. Selbst bei optimalem Hochlauf werden in den nächsten zehn Jahren keine klimaneutralen E-Fuels zur Verfügung stehen. Danach werden sie in anderen Sektoren gebraucht.
Umfassende Verkehrswende statt Fata Morgana
Anstatt unter wachsendem Handlungsdruck eine Fata Morgana anzusteuern, brauchen wir einen zeitnahen vollständigen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor. Statt Warten auf technologische Heilsbringer brauchen wir eine umfassende strukturelle Verkehrswende, die Mobilität neu organisiert und es den Menschen ermöglicht, vom Privat-Pkw auf Rad, Bus und Bahn umzusteigen. Um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssen wir unsere Emissionen in den nächsten zehn Jahren massiv reduzieren. Da ist keine Zeit, um auf Wunderkraftstoffe zu warten.
Es wäre hochgradig unverantwortlich, unter dem Deckmantel der aktuellen Gesundheits- und absehbaren Wirtschaftskrise Maßnahmen zu beschließen, die die globale Klimakrise verschärfen – zumal die nötige Transformation der Automobilwirtschaft bereits lange vor Corona bekannt war. Der Neustart nach Corona muss in einen grünen Strukturwandel münden.