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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Was der ÖPNV von der Telekommunikationsindustrie lernen kann und sollte

Olga Nevska, CEO Telekom MobilitySolutions, und Christian Grotemeier, Professor für Mobilitätsmanagement und BWL an Hochschule RheinMain
Olga Nevska, CEO Telekom MobilitySolutions, und Christian Grotemeier, Professor für Mobilitätsmanagement und BWL an Hochschule RheinMain Foto: PR

Es ist eine Herkules-Aufgabe, die der ÖPNV in Deutschland zu bewältigen hat: Kostensteigerungen, Investitionsstau, Personalmangel, der Kundenwunsch nach einem besseren Angebot in Stadt und Land – das sind nur einige der Themen. Unlösbar? Keineswegs! Die Zusammenarbeit mit bestehenden und vor allem neuen Partnern kann die notwendige Transformation beschleunigen.

von Olga Nevska und Christian Grotemeier

veröffentlicht am 02.08.2024

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Der öffentliche Personenverkehr in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Der Weg zur effizienten, nutzer- und klimafreundlichen Mobilität ist steinig, der Modernisierungsbedarf riesig und die Politik ist auch nicht immer ein verlässlicher Partner. Bleibt die Branche beim Erreichten stehen? Verhindert das Geflecht aus Aufgabenträgern, Verkehrsverbünden und -unternehmen effektive, kundenzentrierte Entscheidungen? Ist die Optimierung von Prozessen und die Skalierung der IT- und Vertriebssysteme in den heutigen Strukturen überhaupt möglich? Und wo bleibt die offensivere Vermarktung des Angebotes sowie die Öffnung für neue Vertriebskanäle? Leider steht im Mittelpunkt der Diskussionen immer noch häufig die Finanzierung und nicht das unternehmerische Denken und Handeln.

Was also tun, um neue Kundengruppen zu erschließen, ergänzende und innovative Produkte zu entwickeln – und das sogar mit geringeren Kosten? Unser Tipp: Ein Blick über den Tellerrand kann nicht schaden.

Blueprint Telekommunikation?

Die Telekommunikationsindustrie sah sich durch die Liberalisierung des Marktes in den späten 1990er-Jahren mit einer gewaltigen Transformation konfrontiert. Und tatsächlich haben Telko und ÖPNV einiges gemeinsam: Sie sind netzgetrieben mit dem klaren Geschäftszweck der Konnektivität. Sie bieten Dienstleistungen für die breite Bevölkerung an, sind wichtige strategische Teile der Infrastruktur unserer Gesellschaft und haben die öffentliche Hand als Shareholder.

Auch die Deutsche Telekom war konfrontiert mit steigenden Kosten, einer veralteten Technologie, komplizierten Tarifstrukturen und ungenügenden Kenntnissen über die Kunden und ihre Bedürfnisse. Sie hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten vom verstaubten und steifbeinigen Staatsunternehmen zum agilen und innovativen digitalen Player gemausert. Dies geschah nicht ganz freiwillig, aber mit einem fulminanten Happy End. Der Behörden-Saurier wurde gezwungen, seine Monopolstellung aufzugeben und sich dem zunehmenden Wettbewerb zu stellen. Heute triumphiert die Telekom als wertvollste Marke Europas.

Wie genau ist diese Metamorphose gelungen? Und was kann der ÖPNV daraus lernen?

Mach deine Kunden zu Fans

Zunächst einmal haben die Telekommunikationsunternehmen ihre Dienstleistungen konsequent auf die Bedürfnisse ihrer Kunden ausgerichtet durch personalisierte Angebote und Service. Gleichzeitig haben sie ihre Produkte und Preismodelle kontinuierlich vereinfacht. S, M oder L – so einfach tickt heute die Telkowelt und präsentiert ihren Kunden ein umfangreiches und attraktives Ökosystem: über Magenta TV werden inzwischen auch Amazon, Netflix und viele andere angeboten. Der Wille, das perfekte Kundenerlebnis zu ermöglichen hat die Angst vor dem Wettbewerb abgelöst.

So weit, so gut. Aber reicht es wirklich aus, Dienstleistungen stärker an den Bedürfnissen seiner Kunden zu orientieren. Mitnichten! Ein weiterer, wenn nicht DER Schlüssel zum Erfolg war bei der Telekom ein nicht ganz freiwilliges Umdenken.

Allein geht hier gar nichts

Im Zuge der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes in Deutschland wurde zur Auflage gemacht, dass die Deutsche Telekom ihr Netz für andere Anbieter und Reseller öffnet. So sollten der Wettbewerb gefördert und die Verbraucherinteressen geschützt werden. 1&1, Freenet und O2 waren nur einige der Anbieter, die den Markt stürmten. Bald erhielten nicht nur Mitbewerber, sondern auch branchenfremde Anbieter wie Tchibo oder Aldi Platz auf der Datenautobahn und verkauften attraktive Mobilfunktarife.

Das war insofern bemerkenswert, als dass viele dieser Anbieter über keine eigenen Netze verfügten, sondern Kapazitäten bei den Netzbetreibern erwarben und dann weiterverkauften. Jedoch hatten sie Zugänge zu speziellen Zielgruppen oder die Möglichkeit, innovative Produktbündel an den Markt zu bringen. Zur Freude der Verbraucher.

Aus heutiger Sicht war diese Entwicklung auch für die Telekom ein Glücksfall. Die Zusammenarbeit mit anderen Anbietern machte es möglich, von deren Innovationen und Investitionen in neue Technologien zu profitieren. Dadurch konnte das eigene Netz modernisiert und gleichzeitig die Position am Markt gestärkt werden. „Coopetition“ lautete das Zauberwort. Es bezeichnet Geschäftsmodelle, in denen Unternehmen sowohl miteinander kooperieren als auch im Wettbewerb stehen.

Mit Partnern über sich hinauswachsen

Auch der ÖPNV sollte es anderen (branchenfremden) Unternehmen ermöglichen, ihre Leistung zu vermarkten und attraktive Pakete zu schnüren. Das Deutschlandticket als universelles Ticket bietet viele Möglichkeiten, es in kombinierte Vermarktungsaktionen einzubeziehen, zum Beispiel im Paket mit einem Fahrrad-Leasing oder als Stadtwerke-Bundle gemeinsam mit dem Stromtarif.

Vor 30 Jahren hätte man sich auch nicht vorstellen können, kombinierte Tarife für Mobilfunk, Festnetz und Fernsehen zu beziehen, heutzutage ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber auch die Vermarktung von Einzeltickets durch Dritte kann ein Gewinn für den Umweltverbund sein. Für die Vermarktung von unternehmens- und verkehrsträgerübergreifenden Wegeketten (Mobility-as-a-Service) ist es notwendig, dass auch Dritte das Ticketing übernehmen können. Es kann nur im Sinne der Verkehrswende sein, wenn sich mehr Unternehmen an Lösungen zur Schaffung eines nahtlosen Reiseerlebnisses beteiligen.

Aber nicht nur im Ticketing, sondern auch auf der Angebotsseite bieten Kooperationen zwischen ÖPNV-Unternehmen und Dritten sinnvolle Erweiterungen des Angebotes: Dies betrifft beispielsweise den Einbezug des privaten Pkw in das ÖPNV-Netz durch Mitfahrangebote. In Hamburg oder Bonn können beispielsweise die Mitarbeitenden von großen Unternehmen Fahrgemeinschaften bilden. Mit dem HVV-Klimaticket ist das Mitfahren kostenfrei und der Fahrer wird vom HVV vergütet. In Baden-Württemberg gibt es Kooperationen mit dem mittelständischen Taxigewerbe. Fahrgäste können mit dem ÖPNV-Ticket und einer kleinen Zuzahlung das ‚ÖPNV-Taxi‘ nutzen, wenn der Mobilitätswunsch sich nicht mit dem ÖPNV erfüllen lässt.

Wir müssen teilen lernen

Auch für den öffentlichen Nahverkehr der Zukunft gibt es für ein Mit- statt Gegeneinander viele Ideen und vielversprechende Projektansätze. Worauf warten wir, bis wir auch hier endlich kollaborieren und unser Knowhow teilen? Der ÖPNV kann die Erneuerung schaffen, indem er auf die Erfahrungen der Telekommunikationsbranche zurückgreift.

Es ist an der Zeit, dass alle Akteure ihre Stärken einbringen, um Busse und Bahnen in Deutschland fit zu machen. Nur durch gemeinsame Anstrengungen können wir eine bezahlbare und zukunftsfähige Mobilität auf die Straße bringen, die unser Leben einfacher macht. Auch über die Metropolen hinaus. Vielleicht gibt es dann ja bis zum nächsten Geburtstag des Deutschlandtickets eine MaaS-Lösung vom ADAC oder in der Farbe Magenta?

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