Die Kernbotschaft von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) zu den Ergebnissen der vierten Bundeswaldinventur wurde als Schocknachricht in den Medien aufgenommen: Unser „Klimaschützer“ Wald ist zur „Kohlenstoffquelle“ geworden. Gemeint ist, dass der Wald seit 2017 mehr Kohlenstoff freigesetzt habe (zum Beispiel durch Verlust bei Kalamitäten, Waldbränden und Stürmen), als die zeitgleich nachwachsenden Bäume in ihrem Holz binden konnten.
Die schlechte Nachricht hat den Bundeslandwirtschaftsminister und viele Verbände dazu veranlasst, reflexhaft altbekannte Forderungen in Bezug auf die Waldbewirtschaftung zu wiederholen: Damit der Wald wieder seine Funktion als Kohlenstoffsenke zurückerhalte, müssten Waldflächen im großen Stil stillgelegt werden und die Nutzung für die Forstwirtschaft weiter eingeschränkt werden.
Nun ist es Zeit, etwas Sachlichkeit in die öffentliche Debatte zurückzubringen. Der Kohlenstoffverlust wurde von Fachleuten des Bundeslandwirtschaftsministeriums nämlich vorhergesehen. Wissenschaftler des Thünen-Instituts gaben bereits 2005 bei der Debatte um das Kyoto-Protokoll zu Bedenken, dass sich die Senkenwirkung des Waldes aufgrund seiner Altersstruktur auch bei nachhaltiger Bewirtschaftung künftig verringern kann. 2016 wiederholte der wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik, der das Bundeslandwirtschaftsministerium direkt berät, diese Warnung.
Und ganz so dramatisch, wie die Überschriften der Tageszeitungen suggerierten, ist die Lage nicht. Der Wald ist mitnichten für den Klimaschutz verloren. Er hat zwar im Zeitraum 2017 bis 2022 an Holzvorrat und damit Kohlenstoff verloren. Im 10-Jahres-Vergleich seit der 3. Bundeswaldinventur im Jahr 2012 hat der Wald allerdings weiterhin als Kohlenstoffspeicher fungiert.
Nutzungseinschränkungen – ein risikoreicher Totholzweg
Ist der Verlust seit 2017 also nur als kurzfristiger klimapolitischer Zwischenfall zu betrachten, der zu beheben ist, wenn wir die forstwirtschaftliche Nutzung des Waldes weiter einschränken? Weil der Klimawandel weiter voranschreitet, dürfen wir es uns nicht so einfach machen. Vielmehr ist es notwendig, sich über die Ursache des Holzvorrats- und Kohlenstoffverlusts bewusst zu werden und mögliche Handlungsempfehlungen zu formulieren.
In die Zeit seit 2017 fiel die Dürreperiode 2018 bis 2021. In diesen Jahren forderten Trockenheit, Borkenkäfer und Waldbrände einen großen Tribut am Baumbestand. Und hier liegt der springende Punkt: Besonders anfällig zeigten sich ausgerechnet diejenigen Waldbestände, die besonders viel Kohlenstoff gespeichert haben, nämlich die zuwachsstarken und vom Klimawandel betroffenen Fichtenwälder und Wälder mit alten und dicken, aber wenig anpassungsfähigen Bäumen.
Durch ihren Verlust wurde in den Jahren seit 2017 besonders viel Kohlenstoff freigesetzt. Auf den nicht betroffenen und stabileren Waldflächen wurde weiterhin viel Kohlenstoff eingelagert.
Neue Nationalparks mit großen Totalreservaten geplant
Diese Schadereignisse zeigen uns, dass die Kohlenstoffsenke Wald nicht einfach als „Bank“ betrachtet werden darf, die zuverlässig jede Tonne Kohlenstoff im Tresor einlagert, die wir einzahlen. Es besteht ein zunehmendes Risiko, dass der Wald, in den die Politik ihre klimapolitischen Hoffnungen steckt, während der nächsten heißen Sommer neue Opfer bringen wird. Das gilt umso mehr, da die fortschreitende Klimaerwärmung weitere Extremwetterereignisse wie Sturm und Dürrejahre immer wahrscheinlicher macht.
Und dennoch setzt die aktuelle Politik nach wie vor auf risikoreiches Nichtstun. Mit dem novellierten Klimaschutzgesetz von 2021 legte die Regierung fest, dass die Bereiche Landwirtschaft und Forstwirtschaft (der sogenannte LULUCF-Sektor) zusammen bis 2030 die immense Summe von 45 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten einsparen müssen. Da sich die Emissionen in der Landwirtschaft aber nur langsam verringern, konnte das gemeinsame Ziel nur über eine deutliche Erhöhung der Senkenleistung des Waldes und der Moore erreicht werden.
Zahlreiche Projekte der Politik haben daher zum Ziel, mit Nutzungseinschränkungen immer größere Waldflächen zu schaffen, die nicht bewirtschaftet werden dürfen, damit die Bäume dort als Kohlenstoffspeicher dienen. Das geplante, aber kürzlich abmoderierte Bundeswaldgesetz des Bundeslandwirtschaftsministers legt zum Beispiel gleich in seinem ersten Paragrafen den Wald als „natürlichen Kohlenstoffspeicher“ fest.
Das Bundesumweltministerium zahlt Waldbesitzenden und Kommunen im Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz Geld dafür, wenn sie abgestorbene Bäume nicht fällen, sondern im Wald belassen. Und bestimmte Interessengruppen wollen neue Nationalparks mit großen Totalreservaten schaffen oder erweitern, wie zuletzt in Baden-Württemberg.
Im Nationalpark Schwarzwald legt die Landesregierung ausgerechnet große Flächen mit alten Fichtenbeständen still, die sich in der Vergangenheit besonders anfällig für Dürre-Kalamitäten gezeigt haben. Anstatt die Wälder aktiv umzubauen und den Kohlenstoff in Holzgebäuden langfristig zu binden, riskiert die Politik hier die nächste Katastrophe.
Plädoyer für eine klimapolitische Zeitenwende
Die hohen Ausfälle der Dürrejahre seit 2017 zeigen, dass es ein Irrweg ist, die Senkenleistung des Waldes immer weiter erhöhen zu wollen, wenn dies dazu führt, dass der Wald immer anfälliger für die Folgen des Klimawandels wird. Die Klimaveränderungen laufen schneller ab, als die Ökosysteme sich natürlicherweise anpassen können. Es ist daher an der Zeit, einer unbequemen Wahrheit ins Auge zu sehen und unsere überzogenen klimapolitischen Erwartungen an den Wald zurückzunehmen. Der Wald benötigt eine klimapolitische Zeitenwende.
Wir sollten uns dafür auf zwei Maßnahmen konzentrieren. Einerseits gilt es, den Wald jetzt an die sich verändernden klimatischen Bedingungen anzupassen und ihn klimaresilient umzubauen.
Andererseits müssen wir den Wald aus den verhängnisvollen Vorgaben des Klimaschutzgesetzes befreien, das unerfüllbare Ansprüche an die Senkenleistung einfordert, um Emissionen zu kompensieren, die andere Sektoren weiter verursachen. Wir sollten stattdessen die Priorität setzen, unsere Emissionen von vornherein zu vermeiden.
Ein verjüngter Wald wird wieder zur Kohlenstoffsenke
Für den klimastabilen Waldumbau gilt es, unsere Wälder aktiv zu bewirtschaften und mit zukunftsfähigen und zuwachsstarken Baumarten zu verjüngen. Es ist dem Klimaschutz nicht dienlich, Nichtstun im Wald finanziell zu honorieren, wie etwa durch das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz.
Stattdessen sollten die Waldbesitzenden stärker unterstützt werden, klimaresiliente Wälder aufzubauen. Ein aktiver Waldumbau verringert vorübergehend zwar den Kohlenstoffvorrat auf diesen Flächen. Ein umgebauter und verjüngter Wald wird aber in wenigen Jahrzehnten wieder zur Kohlenstoffsenke, da junge Wälder ein höheres Kohlenstoffbindungspotential als überalterte Wälder haben und weniger anfällig für die Folgen des Klimawandels sind.
Der dabei anfallende Rohstoff Holz kann gleichzeitig einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz in anderen Sektoren leisten. Holzprodukte speichern nicht nur Kohlenstoff über ihre gesamte Lebensdauer, sondern ersetzen beispielsweise in der Bauwirtschaft energieintensive und mit fossilen Energieträgern hergestellte Materialien.
Wir haben ein Zeitfenster von zwei Jahrzehnten
Dieser Ersatz von konventionellen Baustoffen – auch Substitution genannt – kann laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum bei einem Wohngebäude über 50 Prozent der Treibhausgase einsparen. Würde man die Holzbauquote im Wohnungsneubau verdoppeln – im Ein- und Zweifamilienhausbau auf über 50 Prozent und im Mehrfamilienhausbau auf 15 Prozent – ließen sich dadurch jährlich bis zu drei Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen. Das entspricht bis zu 47 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten in 15 Jahren.
Dabei sind der Innenausbau sowie der viel größere Bereich der Sanierungen nicht einmal berücksichtigt. Zum Vergleich: Die kürzlich vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit 2,8 Milliarden Euro geförderten Klimaschutzverträge sollen in den nächsten 15 Jahren insgesamt nur 17 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einsparen.
Wir haben ein Zeitfenster von knapp zwei Jahrzehnten, um die Klimaneutralität in allen Sektoren zu erreichen. Wir haben ebenfalls ein Zeitfenster von wenigen Jahrzehnten, um die zunehmend instabilen Wälder vor einem Kohlenstofftotalausfall zu bewahren und die Transformation der Ökosysteme einzuleiten. Dieses Zeitfenster sollten wir nutzen: Um den Klimaschutzbeitrag des Holzbaus stärker als bisher voranzutreiben und den Waldbesitzenden den notwendigen klimastabilen Umbau der Wälder zu ermöglichen.