Deutschland kann sich ein „Weiter so“ in der Ernährungspolitik nicht mehr leisten. So lässt sich das aktuelle Positionspapier des Bündnisses #ErnährungswendeAnpacken! zusammenfassen, das die Deutsche Allianz für Klimawandel und Gesundheit gemeinsam mit elf weiteren NGOs aus den Bereichen Ernährung, Umwelt, Gesundheit und Soziales unterzeichnet und heute veröffentlicht hat.
Unser gegenwärtiges Ernährungssystem belastet nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung massiv, sondern auch Umwelt und Klima – und letztlich unsere wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit. Das Bündnis fordert eine zügige Umsetzung ernährungspolitischer Maßnahmen, um die drohenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten abzuwenden.
Gesundheit beginnt auf dem Teller
Die Zahlen sind alarmierend: Fast zwei Drittel der Männer und etwa 40 Prozent der Frauen in Deutschland sind übergewichtig, fast ein Fünftel sogar adipös. Volkskrankheiten wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einige Krebsarten sind mit ungesunden Ernährungsgewohnheiten assoziiert.
Hauptursachen sind der Konsum von zu wenig frischem Obst, Gemüse und Vollkornprodukten, dafür zu viel rotes und verarbeitetes Fleisch sowie Zucker, gesättigte Fette und Salz. Dies verursacht laut Berechnungen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Kosten von fast 17 Milliarden Euro jährlich im Gesundheitssystem – und mit fast zwei Millionen verlorenen gesunden Lebensjahren jährlich nicht zuletzt auch immenses persönliches Leid.
Deutschland kann es sich nicht mehr leisten, weiter am teuersten Gesundheitssystem Europas festzuhalten. Dieses ist auf die Behandlung von Krankheiten und nicht auf deren Vorbeugung ausgelegt. Angesichts steigender Krankenkassen- und Pflegebeiträge sowie dem gravierenden Fachkräftemangel im Gesundheitssektor ist dies nicht länger tragbar.
In ihren aktualisierten nationalen Verzehrempfehlungen vom März 2024 empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) eine überwiegend pflanzliche Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Vollkornprodukten und nur mäßigem Konsum von tierischen Produkten. Der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ hat diese Empfehlungen aufgegriffen und konkrete politische Maßnahmen gefordert. Die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig: Eine Ernährungsweise nach diesen Empfehlungen könnte die Rate ernährungsmitbedingter Erkrankungen drastisch reduzieren.
Gesunde Schulmahlzeiten für mehr Bildungsgerechtigkeit
Besonders dramatisch ist die Situation bei Kindern und Jugendlichen. Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Ernährung besonders eindrücklich. Kinder aus einkommensschwachen Familien leiden häufiger unter Übergewicht und Gesundheitsproblemen, die auf Ernährung zurückgehen. Das ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein bildungspolitisches Problem: Wer ungesund isst oder hungrig bleibt, kann sich schlechter konzentrieren, ist häufiger krank und hat nachweislich schlechtere Bildungs- und Entwicklungschancen.
Schulen und Kitas sind daher der ideale Ausgangspunkt für die Ernährungswende. Hier erreichen wir alle Kinder, unabhängig vom Elternhaus, und können durch hochwertige Gemeinschaftsverpflegung sowie Ernährungsbildung frühzeitig die Weichen für gesunde Ernährungsgewohnheiten stellen. Das vom Bürgerrat und dem Bündnis geforderte kostenfreie, gesunde Mittagessen in Bildungseinrichtungen wäre nicht nur eine Investition in die Gesundheit der Kinder, sondern auch in Bildungsgerechtigkeit und soziale Teilhabe.
Klima und Wirtschaft profitieren mit
Die Transformation unseres Ernährungssystems würde jedoch nicht nur der Gesundheit zugutekommen, sondern ganz erheblich auch der Wirtschaft und dem Klima. 2024 war das erste Jahr, in dem die globale Durchschnittstemperatur 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau lag. Es muss sofort gehandelt werden.
Der Agrar- und Ernährungssektor ist für etwa ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, wobei zwei Drittel auf die Produktion tierischer Produkte entfallen. Eine Ernährungsumstellung nach den DGE-Empfehlungen könnte die ernährungsbedingten Treibhausgasemissionen um bis zu 50 Prozent reduzieren und den Bedarf an Landfläche und den Verlust der Biodiversität senken.
Die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Vorteile einer solchen Transformation sind immens: Sie würde für sauberere Luft und gesündere Böden sorgen und – was angesichts der aktuellen Entwicklungen besonders schwer wiegt – uns gegen die Zunahme verheerender Dürren und existenzbedrohender Ernteausfälle absichern. Diese werden unsere Nahrungsmittelversorgung in Zukunft dramatisch gefährden.
Zudem bietet eine Umstellung auf nachhaltigere Produktionsmethoden großes Innovationspotenzial und ebenso neue Arbeitsplätze im Bereich ökologischer Landwirtschaft und pflanzlicher Lebensmittelproduktion. Zusätzlich hilft sie dabei, die Ernährungssicherheit in Deutschland unabhängiger von (außereuropäischen) Importen zu machen. Die Politik darf unsere Landwirt:innen mit dieser Transformation nicht allein lassen, sondern muss sie mit allen Kräften auf diesem Weg unterstützen – auch finanziell.
Handeln ist günstiger als Warten
Wird das nicht alles zu teuer? Im Gegenteil! Die Kosten des Nicht-Handelns übersteigen bei weitem die Investitionen, die für eine Transformation nötig wären. Präventive Maßnahmen wie bessere Gemeinschaftsverpflegung, Ernährungsbildung und die Förderung nachhaltiger Landwirtschaft sind letztlich günstiger als die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten oder die Bewältigung von Umwelt- und Klimaschäden.
Zudem zeigen Studien, dass gesündere Ernährung nicht zwangsläufig teurer sein muss. Eine pflanzenbetonte Ernährung mit weniger tierischen Produkten kann sogar kostengünstiger sein als der gegenwärtige deutsche Durchschnittskonsum.
Zeit für mutige Politik
Die Forderungen des Bürgerrats und des Bündnisses #ErnährungswendeAnpacken! sind klar: Wir brauchen verbindliche DGE-Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung und finanzielle Unterstützung für gesundes Essen in Bildungseinrichtungen. Ebenso dringend erforderlich sind verbindliche Rahmenbedingungen für die Formulierung, Kennzeichnung und Bewerbung von Lebensmitteln, eine Reform der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel zugunsten gesunder Optionen und eine Stärkung ökologischer und pflanzenbetonter Landwirtschaft. Es ist klar, dass eine solche Politik ressortübergreifend umgesetzt werden muss.
Wichtig ist: Es geht nicht darum, den Menschen vorzuschreiben, was sie essen sollen. Es geht darum, die Orte und Situationen, an denen wir Entscheidungen über unser Essen treffen, so zu gestalten, dass die gesunde und nachhaltige Wahl zur einfachen Wahl wird – und das für alle, unabhängig vom Geldbeutel.
Saskia Wendt ist studierte Ökotrophologin. Am Israelitischen Krankenhaus in Hamburg arbeitete sie in der Prävention und Therapie von Mangel- und Fehlernährung. Seit März 2024 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit und setzt sich hier besonders für die Stärkung der klimasensiblen Gesundheitsberatung von Patient:innen ein.