Wenn Krisen sich stapeln, sinkt in vielen Unternehmen und Finanzinstitutionen die Lust mittel- und langfristig zu investieren. Die Unsicherheit scheint zu groß: Energiepreise steigen, mehr Menschen flüchten, Klimabalance und Biodiversität gehen verloren. Es ist zum Heulen. Allein: Jammern ist nicht wirtschaftlich. Auch Schadensbegrenzung allein schafft noch keinen Mehrwert.
Nachhaltiger zu wirtschaften, um negative externe Effekte zu vermeiden oder zu mindern, das reicht bei Weitem nicht. Zukunftsfähig ist dagegen eine Wirtschaftsweise, die Werte schafft, welche Natur und Gesellschaft heilen, reparieren, stärken, kurz: regenerieren. Innovationen für eine solche regenerative Wirtschaft entstehen, wenn Menschen fragen: Wie könnte es anders gehen? Wie bereiten wir der Zukunft eine optimale Landebahn? Was will das Land, auf dem wir leben, von uns?
Solche Fragen stellte sich vor gut 45 Jahren Ibrahim Abouleish, als er begann, die Wüste zu begrünen. In Ägypten geboren, ging er nach Österreich, um Chemie und Medizin zu studieren. Dort machte er Bekanntschaft mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft und brachte sie zurück in sein Heimatland. Heute wirtschaften in der von ihm gegründeten Unternehmensgruppe Sekem neun Firmen mit über 1.000 Mitarbeitenden.
Vom Leuchtturm zum neuen Normal
Sein Lebenswerk, für das er im Jahr 2003 den alternativen Nobelpreis erhielt, weist indes weit über die ökonomischen Kennzahlen hinaus und setzt auf Langfristigkeit, Kultur und Bildung, unter anderem mit eigenen Schulen und eigener, breit gefächerter Universität.
Die Krux: „Bisher sind wir leider ein einsames Leuchtturm-Projekt geblieben“, bedauert Helmy Abouleish, der Sekem seit 1984 leitet und die Ideen seit dem Tod seines Vaters 2017 weiterführt. Damit das nicht so bleibt, braucht es einen finanziell attraktiven Übergang für andere Marktakteure hin zu einer regenerativen Wirtschaftsweise.
Dafür will Sekem sein Vorbild und seine Wirkung multiplizieren: Seit 2021 machen sich über 2.000 Kleinbauern in Ägypten mit Hilfe von Sekem daran, ebenfalls bio-dynamische Produkte in Demeter-Qualität anzubauen, dem höchsten Standard für Biolebensmittel. Das größte Hemmnis war bisher die Finanzierung dafür: Mindestens zwei Jahre dauert es, bis ein konventioneller Betrieb umgestellt ist und seine Erzeugnisse als Bio vermarkten darf.
Neues Zertifizierungssystem finanziert Transformation
Für diesen Übergang gibt es nun endlich ein Finanzinstrument: Die Carbon Credits der „Economy of Love“ (EOL), ein Zertifizierungsstandard für Produkte, die über die gesamte Lieferkette hinweg ethisch und transparent sind. Infolge der Verbesserung der Bodenqualität durch bio-dynamischen Anbau wird CO2 aus der Atmosphäre im Boden gespeichert. Die EOL wertschätzt diese Klimaschutzleistung finanziell.
Beeindruckender Prototyp ist eine Sekem-Farm im ägyptischen Wahat El Bahariya. Das ehemalige Wüstenland ist inzwischen eine begrünte bio-dynamische Landwirtschaftsfläche und konnte 2021 rund 12.000 Carbon Credits generieren. Die lieferten ein zusätzliches Einkommen von rund 300.000 Euro, das in den Ausbau des von Sand und Kargheit umgebenen Projekts reinvestiert wird. Kunden sind Unternehmen, die am freiwilligen Emissionshandel teilnehmen.
Auf diese Weise sollen 250.000 Landwirt:innen bis ins Jahr 2028 Unterstützung bei der Umstellung auf biologisch-dynamische Methoden erhalten. Sie binden damit nicht nur ca. 9,6 Millionen Tonnen CO2, wie vor Ort zu erfahren ist, sondern machen ihre Farmen fit mit Klimaanpassungsstrategien und erhöhen ihre ökonomische Resilienz.
Biodiversity Credits besser als reine und gefährliche CO2-Fixierung
Klimaneutralität ist das erklärte Ziel vieler Branchen. Doch wenn sich Unternehmen nur auf optimierte Treibhausgaskennzahlen konzentrieren, bleiben andere höchst wichtige Bereiche außen vor, insbesondere der Biodiversitätsverlust als Zwillingskrise der Erderhitzung. „Korallenriffe taugen so gut wie nichts für den Klimaschutz, aber sind ein Hotspot der Biodiversität“, bringt Dan Exton vom britischen Sozialunternehmen Re-Planet das Dilemma auf den Punkt. Viele Ökosysteme benötigen dringend Finanzierung und Schutz, doch nur ein Bruchteil der bisherigen Carbon Credits schafft einen positiven Effekt für die Natur.
Während bei Unternehmen langsam die Nachfrage steigt, in Biodiversität zu investieren, gibt es bisher keinen global anwendbaren Ansatz, den Effekt solcher Investitionen zu messen. Der Wissenschaftler und sein Team haben deshalb ein System entwickelt, mit dem Unternehmen die durch ihre Geschäftstätigkeit geschaffenen Mehrwerte für die Vielfalt von Arten, Genen und Ökosystemen abbilden können: Die Biodiversity Credits.
Einen solchen Credit erhält, wer auf einem Hektar eine ein Prozent höhere Biodiversität gegenüber dem ursprünglichen Zustand erreicht oder den Verlust von einem Prozent biologischer Vielfalt auf dieser Fläche verhindert hat. Noch gibt es keinen Preis für die Biodiversity Credits, das Projekt ist jung – aber vielversprechend und die Nachfrage wächst.
Gesunder Boden ist sicheres Bankkonto
Lösungen wie diese wurden kürzlich bei der Weltklimakonferenz COP27 in Scharm El-Scheich vorgestellt. Sie unterstreichen: Klimaschutz und Biodiversitätsschutz sind nicht nur ein Problem, das gelöst werden muss, sondern vielmehr Vehikel, die uns voranbringen: Mehr Möglichkeiten, mehr Jobs, mehr Sicherheit.
Regeneratives Wirtschaften nahmen viele Referierende und Teilnehmende während des Future Economy Solutions Summit vor der COP27 als Lösung für das Navigieren durch schwierige Zeiten wahr. „Wenn ich erst einen gesunden Boden habe, habe ich ein sicheres Bankkonto“, formulierte der italienische Landwirt Marco Minciaroni aus Umbrien seine Sicht. Dafür brauche es eine Verschiebung: vom Blick auf Mengen zum Blick auf Funktionen.
Wer die Funktionsfähigkeit und -vielfalt von Ökosystemen erhöht, stärkt seine eigene Fähigkeit, auf Veränderungen flexibel zu reagieren. Das kann man nicht oft genug betonen. Denn Ökosystemleistungen sind Grundlage der meisten Wirtschaftsprozesse, auch wenn sie sie nicht in der Rechnungslegung von Unternehmen abgebildet sind.
Doch weil bislang kostenfreie Naturleistungen inzwischen nicht mehr selbstverständlich sind, lohnen sich Investition in dieses Naturkapital zunehmend. Immer mehr Unternehmen sind bereit, dafür zu zahlen. Sie betreiben nicht nur „Offsetting“, also Kompensationszahlungen für schädliche Aktivitäten wie CO2-Ausstoß. Sondern sie streben „Insetting“ an: Naturkapital und gesellschaftliche Auswirkungen und Wertschätzungen in ihre Buchhaltung einzubeziehen.
Innovatives „Insetting“ für Ökosystemleistungen
Beispielsweise schloss Sekem mit dem FruchthändlerEosta und dem Kosmetikhersteller Weleda beim Future Economy Solutions Summit im November je eine Ökosystemleistungsvereinbarung: Jedes Stück Land in der Wahat Wüste wird auf der Grundlage geografischer Überwachungsdaten bewertet, in ein Naturkapitalkonto umgewandelt und dann in einen handelbaren Vermögenswert überführt, der zwar zunächst nicht verkauft wird, aber in die Buchhaltung aufnehmbar ist. Vermittler für diese Verträge ist die darauf spezialisierte „The Landbanking Group“.
„Mit diesem wertvollen Projekt können wir unseren Kunden und unseren Buchhaltern zeigen, dass unsere Lieferungen naturverträglich und in einem unbeständigen Markt sicher sind“, sagt Stefan Siemer, Nachhaltigkeitschef bei Weleda. Eosta-Vorstandschef Volkert Engelsman sieht in der Vereinbarung einen Paradigmenwechsel: „In der Wirtschaft von gestern war Nachhaltigkeit ein Kostenfaktor. In der Wirtschaft von morgen ist sie ein Vermögenswert, der in die Bilanz aufgenommen werden kann“.
Konkrete Kooperationen wie diese könnten oft ernüchternde Treffen wie womöglich die 15. Weltnaturkonferenz vom 7. bis zum 19. Dezember 2022 im kanadischen Montreal zum Erfolg machen. Die Lösungen sind da, wir können sie jetzt auch endlich skalieren, finanzieren und breit anwenden. Yallah – auf geht’s!