Gendersensible Themen erhielten in den letzten Jahren einen sehr zu begrüßenden und ebenso längst überfälligen Aufschwung. Themen wie Gender-Pay-Gap, Gender-Data-Gap und auch Gender-Health-Gap sind längst keine unbekannten Phänomene mehr. So ist auch die frauenspezifische Gesundheit in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus gerückt und es wurden viele Anstrengungen unternommen, die Versorgung zu verbessern. Die Einführung und Optimierung der Screeningprogramme von Mamma- und Zervixkarzinomen sind hier besonders als Positivbeispiel zu nennen.
Insbesondere im Bereich der Brustkrebserkrankung ist jedoch zuletzt ein Paradox zu beobachten. Mit rund 74.500 Neuerkrankungen jährlich ist Brustkrebs die mit Abstand häufigste Krebserkrankung der Frau, etwa 18.500 der Betroffenen sterben pro Jahr. Seit Einführung des Mammographiescreenings konnte gezeigt werden, dass in der Screening-Altersgruppe weniger Frauen an fortgeschrittenen Tumoren erkrankten als vor Einführung des Screenings. Zudem werden durch Fortschritte in der Diagnostik und Therapie die Überlebenschancen und Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessert.
GEP-Tests: Neue Bewertung durch den G-BA?
Trotz dieser Erfolge drohen jetzt beim G-BA Rückschritte für die Versorgung – besonders bei den jüngeren Patientinnen. Wir sehen insbesondere von den Kostenträgern getriebene erneute Diskussionen um die Verwendung von therapiesteuernden Genexpressionstests (GEP) bei Patientinnen mit Hormon-sensitivem, frühen Brustkrebs. GEP-Tests dienen der informierten Entscheidung, indem sie über die pathologischen Merkmale hinausgehende prognostische Parameter liefern. So können GEP-Tests helfen, zu entscheiden, wie aggressiv der vorliegende Tumor behandelt werden muss, um gleichzeitig die bestmögliche Lebensqualität der Patientinnen zu erhalten und ihre individuelle Lebenssituation zu berücksichtigen.
Die Anwendung der Tests ist im Versorgungsalltag längst etabliert. In den Jahren 2014 bis 2021 wurde dieses Thema für die Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bereits ausführlich von allen Seiten beleuchtet und die Tests für Patientinnen ohne Lymphknotenbefall in die Regelversorgung aufgenommen. Nun besteht erneut großer Diskussionsbedarf im Rahmen einer neuen Bewertung durch den G-BA.
Wie viel zählt der Wille der Patientin?
Derzeit wird aufgrund neuer prospektiver Daten zum einen die Erweiterung der Erstattung auf Patientinnen mit Lymphknotenbefall geprüft, was angesichts der vorliegenden Studienlage sehr zu begrüßen ist. Andererseits versucht der GKV-Spitzenverband prämenopausale Frauen ohne Lymphknotenbefall als Patientinnengruppe von der Anwendungsmöglichkeit der Tests auszuschließen. Das wäre besonders fatal, weil die Frage der informierten Therapie gerade bei jungen Frauen natürlich auch das Thema Kinderwunsch und Familienplanung berührt. Kinderlosigkeit ist für jung-erkrankte Krebsüberlebende das größte seelische Dilemma. Daher ist es besonders bei diesen Frauen wichtig, nur dann eine die fruchtbarkeitschädigende Chemotherapie einzusetzen, wenn diese auch tatsächlich zur Überlebensverbesserung beiträgt.
Dabei stellen sich auch grundsätzliche Fragen, auf welche Expertinnen und Experten im Gefüge der Selbstverwaltung regelmäßig stoßen: Welche Studiendesigns eignen sich für Diagnostika? Welche Anforderungen müssen gestellt werden, um qualitativ hochwertige, möglichst unverzerrte Studienergebnisse sicherzustellen? Welche Anforderungen sind in der Durchführung der Studien ethisch tragbar? Kann eine prospektive Studie, die einer Patientengruppe nebenwirkungsreiche Therapien ersparen könnte (beispielsweise eine Chemotherapie bei Kinderwunsch) die entscheidenden Informationen im Namen des Evidenzgoldstandards vorenthalten? Wie viel zählt der Wille der Patientinnen und Patienten? Welches Recht hat das Individuum auf eine Entscheidung unter größtmöglicher Information?
Wie so oft steht die Entscheidung für die Anwendung in der deutschen Regelversorgung im Spannungsfeld der geforderten Evidenz und der gelebten Versorgung im internationalen Vergleich. Während internationale Leitlinien die diskutierte Diagnostik längst einschlägig empfehlen und Patientinnen im europäischen Ausland von innovativer Diagnostik profitieren, müssen deutsche Patientinnen weiterhin auf die Entscheidung warten, ob Daten aus der Versorgungsrealität, wie Registern und prospektiv-retrospektive Erhebungen als Entscheidungsgrundlage für die Bewertung des Nutzens akzeptiert werden. Dabei steht sogar die Option im Raum, entgegen der internationalen Leitlinien und gelebter Praxis, die Anwendung von GEP-Tests weiter einzuschränken.
Dilemma der Selbstverwaltung
Das Dilemma der Selbstverwaltung wird somit zu einem Dilemma für Frauen und die betreuenden Ärztinnen und Ärzte. Aktuelle Daten zeigen, dass die bereits langjährig validierten GEP-Tests einen Einfluss auf die Therapieentscheidung ausüben und in der Versorgungsrealität eine wichtige Entscheidungsgrundlage darstellen. Im schlimmsten Falle kann die derzeitig ausstehende Entscheidung dazu führen, dass für die Therapieentscheidung relevante Informationen der GEP-Tests unter dem Deckmantel der Patientensicherheit vorenthalten werden und eine patientenindividuell angepasste Versorgung gefährdet wird.
Um den Gender-Health-Gap zu schließen, braucht es auch geschlechterspezifische Vorsorge und Versorgung. Durch innovative, datengestützte Diagnostik kann zielgerichtet behandelt werden und Komplikationen, Nebenwirkungen und Schmerzen so gering wie möglich gehalten werden, sowie die individuelle Lebensrealität der Patientinnen berücksichtigt werden. Dies schafft Vertrauen in unser Gesundheitssystem. So können mehr Frauen motiviert werden, Screenings wahrzunehmen mit der Gewissheit, die bestmögliche Versorgung für ihre individuelle Situation zu erhalten. Die Anstrengungen der letzten Jahre zum Schließen des Gender-Health- und -Data-Gaps müssen weiterverfolgt werden. Dies sind wir den Frauen schuldig.
Die Gynäkologin und Brustkrebsspezialistin Marion Kiechle ist seit 2000 Professorin für Frauenheilkunde sowie Direktorin der Frauenklinik rechts der Isar an der Technischen Universität (TU) München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die operative und onkologische Gynäkologie und hier insbesondere erbliche Krebserkrankungen bei Frauen. Zwischen 2011 und 2018 war sie Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst in Bayern. Kiechle ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.