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Standpunkte Corona-Maßnahmen brauchen Balance

Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Foto: Katrin Lorenz

Deutschland ist bisher relativ gut durch die Corona-Krise gekommen. Allerdings wurden zahlreichen Patienten mit psychischen Erkrankungen gesundheitliche Nachteile zugemutet. Angesichts einer möglichen zweiten Infektionswelle bedarf es deshalb einer kritische Diskussion über die richtige Balance der Maßnahmen, fordert Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Depressionshilfe Deutschland.

von Ulrich Hegerl

veröffentlicht am 24.07.2020

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Mit ungewohnter Schnelligkeit und Vehemenz haben Akteure in der Politik, im Medizinbetrieb und in vielen anderen Bereichen zusammen mit der Bevölkerung auf die Bedrohung durch die Coronavirus-Pandemie reagiert und das Infektionsgeschehen in Deutschland erfolgreich unter Kontrolle gebracht. Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern liegen die Zahlen, was Infektionen und Todesfälle angeht, deutlich niedriger, so dass das Vorgehen in öffentlichen Stellungnahmen meist als erfolgreich, wenn nicht gar vorbildlich, dargestellt wird.

Eine auf das Infektionsgeschehen verengte und selbstzufriedene Sicht birgt jedoch das Risiko, dass eine kritische Analyse und Diskussion des in Deutschland gegangenen Wegs nicht ausreichend erfolgt. Aus medizinischer Sicht ist die Erfolgsbilanz des bisherigen Vorgehens keineswegs eindeutig. Die Frage, ob durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens mehr Tod und Leid vermieden als möglicherweise verursacht wurde, ist schwer zu beantworten.

Im Folgenden werden einige Aspekte aus Sicht der Psychiatrie und der großen Gruppe psychisch erkrankter Menschen angesprochen, die bei einer verantwortungsvollen Bilanzierung des bisherigen Vorgehens mitberücksichtigt werden sollten. Ökonomische, freiheitsrechtliche und andere Aspekte, die bei einer Gesamtbilanzierung ebenfalls wichtig wären, werden hier nicht betrachtet.

Eingeschränkte Versorgung für Erkrankte

Für Menschen mit psychischen Erkrankungen hat sich im Zuge der Maßnahmen gegen die Pandemie die Versorgungsqualität deutlich verschlechtert. Bezüglich depressiver Erkrankungen haben Befragungen ergeben, dass fast die Hälfte – und das sind jährlich grob geschätzt 2,5 Millionen Menschen – über eine durch die Corona-Krise deutlich eingeschränkte Versorgung ihrer Erkrankung berichtet. Stationäre Versorgungsangebote wurden reduziert, planbare stationäre Aufnahmen verschoben, Ambulanzen geschlossen oder auf Videosprechstunden umgestellt.

Diese Maßnahmen sollten zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beitragen und Ressourcen für die initial befürchtete große Welle an Corona-Erkrankten freihalten. Vielleicht noch bedeutsamer ist, dass viele Patienten durch zahlreiche öffentliche Äußerungen und Medienberichte in eine so große Angst versetzt wurden, dass sie die ambulanten Versorgungsangebote von Hausärzten, Fachärzten (Psychiater, Nervenärzte) oder Psychologischen Psychotherapeuten nicht mehr wahrgenommen haben. Auch aus Neurologie, Kardiologie und anderen Bereichen der Medizin wurde über ein verschlechtertes Hilfesuchverhalten von Patienten und freistehende Versorgungskapazitäten berichtet.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Szenarienpapier aus der Anfangsphase der Corona-Krise, in dem empfohlen wurde, den Menschen in Deutschland Angst einzujagen, um das Einhalten von Hygieneregeln zu fördern. Bei der Lektüre dieses Papiers entsteht teilweise der Eindruck, dass auch den Politikern Angst eingejagt werden sollte, da mit Worst-Case-Szenarien von bis zu einer Million Toten in Deutschland in diesem Jahr argumentiert wurde.

Zunahme suizidaler Handlungen nicht unwahrscheinlich

Nicht genannt werden Auftraggeber und Autoren dieses Papiers, so dass weder die Kompetenz der Autoren noch mögliche Interessenskonflikte beurteilt werden können. Bei Menschen mit Depressionen, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen, die in besonderer Weise empfänglich für angstmachende Nachrichten sind, kann so eine Strategie zu einer Verschlechterung des Hilfesuchverhaltens und anderen unerwünschten Reaktionen führen.

Der Wegfall und die reduzierte Nutzung von Versorgungsangeboten hat ohne Zweifel zahlreiche Krankheitsverläufe ungünstig beeinflusst und großes vermeidbares Leid verursacht. Auch eine Zunahme suizidaler Handlungen erscheint nicht unwahrscheinlich, da diese mehrheitlich Folge nicht optimal behandelter psychischer Erkrankungen sind.

Negative Auswirkungen der Corona-bedingten Maßnahmen auf die Suchtentwicklung (z.B. Wegfall der schützenden Wirkung einer geregelten Arbeit, Wegfall von Beratungsgesprächen und Selbsthilfegruppen) können sich zusätzlich negativ auf das Risiko suizidaler Handlungen auswirken und sind auch für sich genommen eine unerwünschte Folge der getroffenen Maßnahmen. Weiter ist durch die soziale Isolation die Chance vermindert, dass Angehörige und Freunde eine suizidale Krise erkennen und Hilfe organisieren.

Übertriebene Maßnahmen verursachen unnötiges Leid

Der beachtliche Rückgang der jährlichen Suizide von circa 18.000 vor 35 Jahren auf circa 9.400 im Jahr 2018 dürfte Folge einer besseren Behandlung psychisch Erkrankter sein. Die Corona-bedingt verminderte Versorgungsqualität kann zu einer Zunahme suizidaler Handlungen führen. Zu bedenken ist hierbei allerdings, dass dies nicht mit einer Zunahme der Suizide einhergehen muss. Werden im Rahmen des Rückzugs in das häusliche Umfeld weniger tödliche Suizidmethoden gewählt, dann kann eine Zunahme der Suizidversuche mit einer Abnahme der Suizide einhergehen.

Bei einer nicht auf das reine Infektionsgeschehen verengten Sicht wird deutlich, dass es nicht um ein Aufrechnen von Ökonomie versus Gesundheit geht, sondern um die Balance zwischen Leid und Tod, die durch die Maßnahmen möglicherweise verhindert und möglicherweise verursacht werden. Übertriebene Maßnahmen gegen Corona sind deshalb auch kein „Auf Nummer Sicher gehen“, sondern verursachen unnötiges Leid für andere Patientengruppen.

Als Hauptziel der laufenden, tiefgreifenden Maßnahmen ist genannt, durch Drosselung des Infektionsgeschehens zusätzliches Leid und zusätzlichen Tod in Folge einer möglichen Überforderung der intensivmedizinischen Versorgung, wie sie zum Beispiel in Italien zu beobachten war, zu vermeiden. Dies ist vollständig gelungen. Die in Deutschland zu beklagenden Corona-Toten sind trotz guter medizinischer Versorgung verstorben und mit diesen Todesfällen ist auch bei einem verlangsamten Infektionsgeschehen weiterhin zu rechnen. Ob die durch die Dämpfung des Infektionsgeschehens gewonnene Zeit genutzt werden kann, um in einem überschaubaren Zeitraum bessere Behandlungen und sichere Impfstoffe zu entwickeln, ist unsicher.

Debatte um Balance ist notwendig

Tatsache bleibt, dass Millionen Patienten mit psychischen und anderen Erkrankungen gravierende gesundheitliche Nachteile zugemutet wurden, um möglichen zukünftigen Corona-Patienten gravierende Engpässe in der intensivmedizinischen Versorgung zu ersparen.

Auch wenn vieles im Rahmen der Corona-Pandemie in Deutschland sicherlich gut gelaufen ist, so darf eine kritische Diskussion der komplizierten aber zentralen Frage nach der richtigen Balance zwischen den erwünschten und unerwünschten Folgen der Maßnahmen gegen Corona nicht unter den Tisch gekehrt werden. Diese Debatte ist nötig, um bei erneutem Aufflackern des Infektionsgeschehens oder kommenden Virus-Pandemien ein optimales und ausgewogenes Vorgehen zu finden.

Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Seit Juni 2019 ist er Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main.

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