Das DVMPG ist verabschiedet; die überwiegende Resonanz auf die finale Version des Kabinettentwurfs in weiten Teilen positiv. Berücksichtigt sie insbesondere erstmals auch die Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) – eine zukunftsweisende Chance, assistive Technologien zur Unterstützung ambulanter Versorgungsprozesse von Pflegebedürftigen einzusetzen. DiPA bieten somit vor allem ambulant versorgten Personen eine Möglichkeit, den Pflegeprozess im häuslichen Setting zu verbessern. Insbesondere die geplante Lösung hinsichtlich einer Aufteilung des DiPA-Budgets zwischen den nach § 39a SGB XI angedachten ergänzenden Unterstützungsleistungen der professionellen Pflege auf der einen und der Software-Lizenzkosten auf der anderen Seite weisen einen grundsätzlich begrüßenswerten, weil paritätischen Weg auf.
Gleichwohl ist das veranschlagte Gesamtbudget mit 50 Euro nicht gerade üppig bestückt. Erschwerend kommt hinzu, dass im Gesetzesentwurf keine konkreten Aussagen über den Verteilungsschlüssel getroffen werden. Und genau hierin liegt eines von mehreren Dilemmata: Das DVPMG sieht vor, dass sich die relevanten Stakeholder über einen Budget-Share selbst einigen sollen – und das drei Monaten nach Aufnahme in das neue Verzeichnis für digitale Pflegeanwendungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Zu Lasten der Betroffenen
Die berechtigte Frage lautet: Wie genau soll das vor sich gehen? Welche Prioritäten werden hinsichtlich Technologie-Relevanz und dem pflegerischen Nutzen der Anwendung für den Pflegebedürftigen gesetzt? Wie soll hier das Nutzen und Kostenverhältnis von digitaler App und persönlicher Unterstützungsleistung gegeneinander aufgewogen werden? Deshalb ist die gesetzlich geplante Aufteilung eines Gesamtbudgets zwischen technologischer Applikation und persönlicher Unterstützungsleistung im operativen Doing nur schwer nachzuvollziehen – und geht in der Konsequenz eindeutig zu Lasten der Betroffenen. Ganz zu schweigen von dem damit verbundenen immensen bürokratischen Aufwand, der pro App und Anwender entsteht.
Doch der Reihe nach. Fakt ist: Digitale Hilfsmittel in den Pflegeprozess zu integrieren, ist möglich und wünschenswert. Gleichwohl ist eine DiPA ohne die personelle Unterstützung menschlich erbrachter Unterstützungsleistungen der professionellen Pflege aber nur eingeschränkt wirksam. Einen vollen Nutzen entfalten voraussichtlich viele Digitale Pflegeanwendungen erst in der Kombination professioneller Pflege-Dienstleistung vor Ort und dem im System integrierten Care-Managementsystemen der Pflegedienstleister. Erst dieser Dreiklang ermöglicht signifikante Fortschritte zur Steigerung der Qualität in der Pflege.
Ein weiteres Dilemma besteht darin, dass die geplante Regelung zum Einsatz der DiPA relevante weitere Zielgruppen gänzlich außen vor lässt. So werden bis jetzt Pflegebedürftige in vollstationären Pflegeeinrichtungen von der Nutzung ausgeschlossen. Diese im Kern geschaffene Klassen-Gesellschaft von anspruchsberechtigten Anwendern ist angesichts des in den Applikationen innenwohnenden Unterstützungspotentials nur schwer verständlich oder pflegepolitisch zu vertreten.
Anwendungen für Pflegebedürftige entwickeln
Und wenn wir schon bei den technologischen Vorteilen und den potentiellen App-Nutzern sind, wenden wir uns doch gleich dem dritten Dilemma zu: Für wen sollen die digitalen Pflegeanwendungen eigentlich entwickelt werden? Diese Antwort ist aus unserer Sicht zumindest eindeutig: für die Pflegebedürftigen. Sie sind die Anspruchsberechtigten des SGB XI. Im Hinblick darauf sei nun eine weitere Frage erlaubt: Sind diese Menschen, die laut aktuellem AOK-Pflegereport ein mittleres Durchschnittsalter von 75 Jahren aufweisen, tatsächlich die demografische Zielgruppe, die sich im Jahr 2022 bereits intuitiv die DiPA-App aus dem App Store herunterlädt und diese bewusst und eigenständig anwendet? Auch bei dem Rechenbeispiel des BMG, wonach über 80 Prozent der Pflegebedürftigen über 60 Jahre alt sind, darf dies zumindest bezweifelt werden.
Der Weg zur „Digitalen Souveränität“ deutscher Senior:innen, wie er im Achten Altersbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefordert wird, ist noch weit, vor allem wenn es darum geht, als Basis dafür „mit lebensweltorientierten Unterstützungsangeboten sowohl elementares Bedienwissen als auch den Erwerb von Gestaltungs-und Orientierungswissen sicher(zu)stellen“. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, warum im offiziellen Gesetzestext bislang die Sorgenden und Pflegende Angehörigen (SPA) als Anspruchsberechtigte eigentlich nicht aufgeführt werden? Zumal sich die berechtigte Hoffnung alle Beteiligten wie selbstverständlich auf diesen Personenkreis richtet. Sind sie doch zu über 90 Prozent beim häuslichen Pflegeprozess beteiligt. Zum Vergleich: Der Anteil der exklusiv durch den Ambulanten Pflegedienst betreuten Pflegebedürftigen liegt bei rund sechs Prozent. Daneben greift auch hier das demografische Dilemma: Das Durchschnittsalter bei den Hauptpflegepersonen liegt heute bei über 57 Jahren. Und über 40 Prozent der zumeist weiblichen Angehörigen sind bereits über 60 Jahre alt. Ergo: Der Anteil von Digital Natives unter den SPA ist auch in dieser Zielgruppe noch sehr gering.
Zwischenfazit: Eine erfolgreiche DiPA-Strategie des Bundesgesundheitsministeriums sollte daher auch bei Berücksichtigung der Angehörigen als Hauptnutzer:innen darauf achten, dass elementares Basiswissen im ausreichenden zeitlichen Umfang zu den Digitalen Pflegeanwendungen vermittelt wird. Gerade für wiederkehrende organisatorische und administrative Aufgaben bieten sich unserer Meinung nach hybride DiPA-Konzepte an, die eine wirksame Entlastung für die Angehörigen schaffen. Dafür sollten die Vorteile der Digitalisierung im Sinne von Transparenz, automatisierter Vernetzung, schlanker effizienter Kommunikation und Arbeitsentlastung kombiniert werden mit der dauerhaften personellen Unterstützung durch Assistenzkräfte mit spezialisiertem Expertenwissen aus Pflegeberatung und ambulanten Pflegediensten.
Care-Manager:innen und Pflegeberater:innen können helfen
Konkret könnten so beispielsweise Pflegeberater:innen den Familien bei Antragsfragen und Abrechnungen mit der Pflegekasse oder Updates bei der ePA über eine gemeinsam genutzte DiPA-Plattform mit praktischen Umsetzungsleistungen assistieren oder Care-Manager:innen in ambulanten Pflegediensten Beratungs-und Betreuungsleistungen erbringen.
Der monatliche Unterstützungsbedarf bei diesem Beispiel, aber auch bei anderen DiPA-Lösungen, kann sicherlich stark von Monat zu Monat variieren. Deshalb wäre ein DiPA-Jahresbudget von 600 Euro analog des flexiblen, bedarfsorientierten Verfahrens bei der Kurzeit-und Verhinderungspflege eine sehr sinnvolle gesetzliche Optimierung zur bisher starren Regelung mit Verfall nicht genutzter Leistungen am Monatsende.
Da nach dem Willen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf breiter Front die Digitalisierung auch bei den Leistungen der Pflegeberatung nach § 7a und § 45 Einzug erhalten soll, wäre eine die Leistungsartenübergreifende Konzeption der DiPA-Umsetzungsverordnung dringend angeraten. Das Bundesgesundheitsministerium sollte dann auch das monatliche Angebot zur Unterstützung im Alltag (AUA) nach § 45a in Höhe von 125 Euro als eine gut geeignete Option konzeptionell integrieren.
Im weiteren Prozess der Entwicklung der Rechtsverordnung wird es sehr wichtig sein, gerade der Ausgestaltung der ergänzenden Unterstützungsleitungen nach § 39a eine hohe Bedeutung zuzumessen. Keinem ist damit gedient, wenn digitale Pflegeanwendungen initial auf das Handy oder den heimischen PC geladen werden, dann aber die Nutzung aufgrund unzureichender Unterstützung nicht tatsächlich den Pflegeprozess unterstützt und entlastet. Der menschlichen Komponente sollte im Hinblick auf die erfolgreiche Vermittlung von elementarem Bedienwissen als auch beim Erwerb von Gestaltungs-und Orientierungswissen bei der Einführung und Nutzung Digitaler Anwendungen gerade in der zutiefst personell geprägten Pflege ausreichend Respekt entgegengebracht werden.
Und zu guter Letzt: Die Unterstützungsleistungen sollten nicht als zu vermeidender Kostenfaktor, sondern als überaus nützliche Investition für die digital unterstützte Entlastung von Pflegebedürftigen und Angehörigen betrachtet werden.
Helmut Ristok ist Vorstandsmitglied beim FINSOZ e.V.; Hendrik Dohmeyer ist Vorstandsmitglied im Verein Pflegende Angehörige. Sie sind Mitglieder der Anfang Februar gegründeten Allianz für Digitale Pflegeanwendungen (SVDiPA).