Zweifelsfrei ist die Zahl der Cannabis-Patient:innen seit der Reklassifizierung von medizinischem Cannabis am 1. April 2024 rasant gestiegen. Zumindest in diesem Punkt sind sich alle Branchenkenner einig. Die Meinungen divergieren aber bereits bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Therapie. Und das, obwohl ein Blick auf die Zahlen zeigt, für wie viele Menschen medizinisches Cannabis zumindest eine Therapieoption darstellen kann, gerade seitdem es rechtlich auf einer Ebene mit anderen verschreibungspflichtigen Medikamenten wie beispielsweise höher dosiertem Ibuprofen oder Schlafmittel (Z-Medikamente) steht.
Unter chronischen Schlafstörungen leiden sechs Millionen Menschen in Deutschland, unter chronischen Schmerzen mehr als zwölf Millionen Menschen. Das sind nur zwei von vielen Indikationen, bei denen medizinisches Cannabis infrage kommt. Die aktuell für chronische Insomnie verfügbaren Medikamente sind nicht für die längerfristige Anwendung gedacht oder führen zu zusätzlich belastenden Nebenwirkungen. Dass der Anteil von Patient:innen mit Schlafstörungen unter den Cannabis-Patient:innen vermutlich überproportional gestiegen ist, hat unserer Meinung nach vor allem zwei Ursachen: Erstens hat sich gerade für diese Indikation der Zugang zur Therapie stärker vereinfacht als für andere Indikationen, mehr Menschen ziehen diese Behandlungsform nun in Betracht; und zweitens verfügen diese Patient:innen nun endlich über eine Therapie-Option mit vergleichsweise milden oder gar keinen Nebenwirkungen.
Vorverurteilung erkrankter Menschen?
In Deutschland obliegt es dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin, gemeinsam mit Patient:innen zu entscheiden, welche Therapie bei einer Indikation helfen kann. Bizarr und nicht zielführend ist eine Vorverurteilung dieser erkrankten Menschen, deren Lebens- und Arbeitsalltag teils erheblich beeinträchtigt wird, sowie die Bagatellisierung von Schlafstörungen als „seichte“ Indikation.
Umso mehr, als dass für die Engpass-Theorie die Fakten fehlen. Ein Blick auf die Importmengen zeigt, dass 2023 rund 33 Tonnen medizinisches Cannabis nach Deutschland importiert beziehungsweise hierzulande angebaut wurden. Davon wurden aber „nur“ 19 Tonnen an Apotheken geliefert. Diese Differenz deutet auf ein großes Überangebot 2023 hin. Denn für Re-Exporte in dieser Größenordnung fehlt es in der EU an entsprechenden Märkten, für wissenschaftliche Zwecke fehlt es hierzulande (leider!) an Forschung, für die Mengen im mehrstelligen Tonnen-Bereich erforderlich wäre.
Zudem sind die Preise von medizinischen Cannabis in der Apotheke inzwischen auf teilweise unter fünf Euro gesunken. Gerade aufgrund des steigenden Anteils an Selbstzahlern sind Cannabis-Patient:innen extrem preissensibel. Bei einer tatsächlichen Verknappung auf der Angebotsseite dürfte man von einem deutlichen Preisanstieg ausgehen. Einen solchen hat es höchstens sehr leicht und temporär nach dem 1. April gegeben, die Preise haben sich aber längst wieder auf dem Niveau vor der Reklassifizierung eingependelt.
Keine offiziellen Meldungen
Schlussendlich wäre eine Engpass-Situation auch auf offizieller Ebene keine Kleinigkeit. Insbesondere bis 1. April 2024 galt als Voraussetzung zu medizinischem Cannabis, dass andere Therapien bereits ausgeschöpft wurden (austherapiert) und eine chronische Erkrankung vorliegt. Unter den Cannabis-Patient:innen sind daher etliche Menschen mit erheblichen chronischen Erkrankungen, die ohne ihre richtig eingestellte Medikation ihren Lebens- und Arbeitsalltag nur sehr schwer meistern können, wenn überhaupt. In solchen Fällen wäre es daher auch Aufgabe der offiziellen Aufsichtsbehörden, entsprechende Warnungen auszusprechen. Und dieser Aufgabe ist das BfArM auch nachgekommen, als beispielsweise valide Statistiken auf Engpässe für paracetamol- und ibuprofenhaltigen Fiebersäfte für Kinder hindeuteten. Nur: Für medizinisches Cannabis fehlt bisher jegliche Warnung, dass es ähnliche Engpässe geben könnte.
Das ist auch nicht verwunderlich. Rund um den Globus sind EU GMP zertifizierte Produktionsstätten für medizinisches Cannabis entstanden. 2023 haben hiesige Großhändler aus 23 verschiedenen Ländern medizinisches Cannabis importiert. Gerade in Kanada, immer noch mit Abstand die wichtigste Bezugsquelle für den deutschen Markt, ist eine hoch professionalisierte Industrie mit skalierbaren Produktionsprozessen entstanden – die im Übrigen Jahr für Jahr Überschüsse in beträchtlicher Menge produziert.
Die durch einzelne Individuen, nicht aber durch belastbare Fakten verursachte Debatte über hypothetische Engpässe verschleiert daher den Blick auf das Wesentliche: Wir müssen hierzulande die Versorgungssituation durch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte und durch unsere Apotheken verbessern. Denn das sind die echten Engpässe, weiterhin wird zu selten zumindest ein Therapieversuch mit medizinischem Cannabis ermöglicht.
Dr. med Julian Wichmann ist Facharzt, Co-Founder der Bloomwell Group und CEO von Bloomwell, der größten zentralen digitalen Plattform für medizinisches Cannabis in Deutschland. Thomas Schatton ist CEO von Four 20 Pharma, einem der führenden Importeure und Großhändler für medizinisches Cannabis in Deutschland.