Für viele kam die Ankündigung der Cannabis-Legalisierung Ende 2021 überraschend. Neben großer Freude über die progressive Linie in der Drogenpolitik machten sich bei Kritikern schnell Zweifel breit. Die Regierung handle unbedacht, sei sich der von Cannabis ausgehenden Gefahren nicht bewusst und verfüge nicht über die nötige drogenpolitische Erfahrung.
Was dabei bis heute gerne übersehen wird: Deutschland verfügt bereits über einen profunden Erfahrungsschatz im sicheren Umgang mit Cannabisprodukten. Denn die deutsche Cannabisindustrie blickt auf eine gut fünfjährige Erfolgsgeschichte zurück. Seit 2017 erstatten deutsche Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen die Versorgung mit Medizinalcannabis. Seither haben Hersteller und Distributoren ein starkes internationales Netzwerk aufgebaut, gemeinsam mit deutschen Behörden sichere Lieferketten etabliert und tausende Patienten mit Cannabisprodukten versorgt.
Cannabis ist als Arzneimittel in Deutschland inzwischen anerkannt und entspricht höchsten pharmazeutischen Qualitätsstandards. Und wie alle regulierten Präparate werden auch Cannabisprodukte fortlaufend überwacht. Unter der Leitung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) lief bis bis zum 31. März 2022 eine umfassende Begleiterhebung. Auf Grundlage der Ergebnisse dieser Begleiterhebung soll der Gemeinsame Bundesausschuss innerhalb von sechs Monaten Richtlinien zur Leistungsgewährung erarbeiten.
Cannabis oft letzte Behandlungsoption
Die Gesamtauswertung lässt deshalb noch auf sich warten. Die Zwischenergebnisse von 2020 aus rund 10.000 vollständigen Datensätzen zeigen aber schon heute vor allem eins: Cannabis wird vermehrt eingesetzt – besonders dort, wo etablierte Medikamente an ihre Grenzen stoßen. Am häufigsten werden Schmerzpatienten (73 Prozent) mit Medizinalcannabis behandelt. Die zweit- und dritthäufigsten Hauptindikationen sind derzeit Spastik (10,3 Prozent) und Anorexie/Wasting (6,4 Prozent). Bei den fast 7.500 Fällen mit Schmerzwahrnehmung beurteilten die Patienten den Therapieerfolg in 34 Prozent der Fälle als deutlich verbessert, in 36 Prozent der Fälle als moderat verbessert und in 28 Prozent der Fälle als unverändert. Bei den 113 Patienten mit multipler Sklerose und Spastik als primärer Symptomatik wurde der Therapieerfolg sogar noch etwas erfolgreicher bewertet.
Gleichzeitig offenbart sich an den noch geringen Fallzahlen ein dringendes Problem: Weiterhin fehlt es an umfassenden und zuverlässigen Studien. Selbst die Begleiterhebung erfasst nicht alle in Deutschland mit Cannabisarzneimitteln behandelten Patienten. Die Cannabis-Branche kritisiert nicht zu Unrecht, dass die bisherigen Zwischenergebnisse hauptsächlich Dronabinol-Verordnungen in den Fokus nehmen. Therapeutisch komplexere Fälle mit Cannabisblüten, Kapseln oder Extrakt sind bislang noch stark unterrepräsentiert.
Berührungsängste bei der Verordnung
Unzureichende Evidenzen und Erfahrungswerte führen für Patienten zu einem weiteren Problem: Zurückhaltung. Denn aus medizinischer Sicht gilt überall dort Vorsicht, wo nicht auf belastbare Zahlen zurückgegriffen werden kann. Weiterhin sind heute viele Ärzte nicht mit der Verordnung von Cannabisprodukten und ihrer Indikation vertraut. Sie haben Berührungsängste – zum Leidwesen tausender Patienten. Denn für Patienten ist es heute sehr schwer, auf eine Therapie mit verordnetem Medizinalcannabis zurückzugreifen. Es zeigt sich immer wieder, dass Betroffene vor dem deutschen Verordnungssystem kapitulieren. Durchhaltevermögen zeigen meist Patienten mit Cannabis-Vorerfahrung und nicht solche, die eine Therapie besonders dringend benötigen. Auch das verzerrt die Statistik.
Medizinalcannabis sollte als gleichberechtigte Therapieoption sichtbarer werden. Auch die Cannabislegalisierung für Genusszwecke kann dahingehend als große Chance wahrgenommen werden. Denn das größte Problem von Medizinalcannabis sind bislang noch die sozialen Stigmata. Eine gesellschaftliche Öffnung gegenüber Cannabis wird langfristig zu einem neuen Umgang führen. Durch eine steigende gesellschaftliche Akzeptanz werden Vorbehalte bei Krankenversicherungen und Ärzten nachhaltig gesenkt und bessere Strukturen für die Abgabe von Medizinalcannabis etabliert. Wichtig ist dann allerdings umfassende Aufklärungsarbeit. Der freizeitliche Konsum von Cannabis kann keine ärztliche Therapie ersetzen und die Produkte sind nicht als Medikament vorgesehen. Die Regierungskoalition hat deshalb im Koalitionsvertrag auch bewusst von „Genusszwecken“ gesprochen. Wir müssen verhindern, dass sich Patienten zu einer Selbsttherapie gezwungen sehen, weil ihnen der Zugang zu einer kassenfinanzierten medizinischen Therapie zu aufwändig erscheint.
Jakob Sons ist Cansativa-Geschäftsführer, ein Logistikpartner der Cannabisagentur.