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Standpunkte Evidenz stellt Cannabis gutes Zeugnis aus

Julian Wichmann, Geschäftsführer Algea Care
Julian Wichmann, Geschäftsführer Algea Care

Vier Jahre nach der Legalisierung von Cannabis als Medizin ist das Potential der Pflanze längst nicht ausgeschöpft. Studien aber zeigen, dass das komplexe Naturprodukt Patient:innen hilft. Julian Wichmann plädiert für mehr Aufklärung bei Ärzt:innen.

von Julian Wichmann

veröffentlicht am 14.04.2021

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Von 800.000 Patienten*innen deutschlandweit träumte die globale Cannabis-Industrie, als im März 2017 das Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft trat. Vier Jahre später liegen wir bei etwa 100.000 Patient:innen, wobei man die Anzahl der Privatpatienten:innen und Selbstzahler:innen nur schätzen kann. Hat Cannabis als Medizin also nicht gehalten, was sich viele versprochen hatten? Keineswegs. Die große Nachfrage aus der Patientenschaft trifft allerdings auf ein begrenztes Behandlungsangebot von Ärzt:innen, obwohl Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabis in ausreichendem Maße vorliegt. Die Ärzteschaft muss das Potenzial der verschiedenen Cannabinoide endlich anerkennen und routiniert nutzen.

Theoretisch können alle approbierten Ärzte in Deutschland medizinisches Cannabis verschreiben. Die Verschreibung ist allerdings mit sehr viel Bürokratie verbunden. Medizinisches Cannabis – lassen wir reines CBD außen vor – ist ein streng reguliertes medizinisches Betäubungsmittel für die Therapie chronisch Erkrankter. Herkömmliche Behandlungsmethoden müssen bereits ausgeschöpft sein oder für den Patient:innen nicht in Frage kommen. Für jeden einzelnen Patient:in muss der Arzt vor Beginn einer Cannabis-Therapie eine Kostenübernahme beantragen, welche in circa 40 Prozent der Fälle zunächst abgelehnt wird. Hinzu kommen mögliche Regressansprüchen der Kassen.

Stigma auch bei Ärzt:innen

Wir schätzen, dass weniger als zwei Prozent aller Ärzte medizinisches Cannabis bis dato je verschrieben haben. Und das, obwohl Cannabis für eine Vielzahl an Erkrankungen und bei ganz verschiedenen Symptomen hilft. Der Gesetzgeber hat 2017 vorausschauend nicht festgelegt, wofür genau medizinisches Cannabis verwendet werden darf. Zu den häufigen Indikationen gehören beispielsweise chronische Schmerzen, Schlaf- und Angststörungen, aber auch Depressionen, ADHS, sowie chronische Darmerkrankungen. Für über 50 verschiedene Indikationen wird Cannabis inzwischen bereits zur Behandlung erfolgreich angewendet. 

Woher rührt also die Skepsis auf Ärzteseite? Ist es ausschließlich der lästige Papierkram, der abschreckt? Nicht nur. Tatsächlich scheint medizinisches Cannabis noch immer mit Stigmatisierung auch in medizinischen Fachkreisen zu kämpfen. Zumindest aber fehlt vielen Ärzten noch das Wissen über die verschiedenen Cannabinoide und ihre Wirkungsweise im endogenen Cannabinoidsystem des menschlichen Körpers. Das ist auch verständlich, schließlich verfügt der gesamte menschliche Körper über Rezeptoren, an die die Cannabinoide andocken.

Einige Beispiele hochwertiger Studien aus den zurückliegenden Jahren: 2019 zeigte eine große Meta-Analyse von der LMU mit 1.629 Patient:innen ein gutes Therapie-Ansprechen über eine Anzahl von psychiatrischen Erkrankungen hinweg bei gleichzeitig sehr kleinem Nebenwirkungsprofil. Überhaupt sind die Nebenwirkungen von medizinischem Cannabis vergleichsweise gering, berücksichtigt man, dass dadurch die oft tägliche Einnahme sehr starker chemischer Medikamente extrem reduziert oder sogar gänzlich eingestellt werden kann; etwa die Einnahme von Schmerz- und Schlafmittel, wie eine Studie 2019 mit 1.000 Patienten*innen zeigt, oder laut einer weiteren Studie (2017) mit 1.513 Patient:innen auch die von Antidepressiva, Opioiden und anderen Schmerzmitteln, anxiolytischen Medikamenten und Alkohol.

Herausforderung für Forschung durch Naturprodukt Cannabis

Eine der spannenden Ursachen für den guten therapeutischen Effekt von Cannabis ist das sich ergänzende Zusammenspiel der Cannabinoide, primär THC und CBD. 2018 zeigten Forscher mit einer Gruppe von 2.032 Patienten, darunter Beschwerden wie Migräne, Kopfschmerzen Arthritis und chronische Schmerzen, dass Cannabis analgetisch, also schmerzstillend, anti-inflammatorisch, also entzündungshemmend, sowie antiemetisch, also brechreizmindernd wirkt. Auch 2020 kommen Forscher bei einer Analyse von 19.734 Cannabis-Einnahmen zu dem Ergebnis, dass Cannabis im Langzeitverlauf signifikant Migräne- und Kopfschmerzsymptomatik verringere.

Schließlich werden klinische Studien der Phasen III/IV im Fall von natürlichem Cannabis wohl auch in der Zukunft die Ausnahme bleiben. Da natürliche Produkte nicht oder kaum patentierbar sind, rentieren sich die hohen Kosten für solche Studien kaum. Diese monetäre Anreizstruktur darf aber nicht dazu führen, dass das Potenzial von medizinischem Cannabis unausgeschöpft bleibt, um die tagtäglichen Leiden von Tausenden chronisch erkrankten Menschen in Deutschland zu mildern und ihnen damit im Alltag Lebensqualität zurückzugeben. Gerade in Zeiten der Pandemie und assoziierten Lockdown-Maßnahmen steigen die beobachteten Inzidenzen von Depressionen sowie Schlaf- und Angststörungen dramatisch.

Medizinisches Cannabis hat daher das Potenzial, nicht nur das Leben vieler chronisch erkrankter Menschen zu verbessern, sondern auch unser streng evidenzbasiertes schulmedizinisches Vorgehen auf ein ganz neues Qualitätslevel zu hieven, das deutlich ganzheitlicher ausgerichtet und am einzelnen Menschen orientiert ist. Erforderlich ist dafür, dass wir als Mediziner gewillt sind, fortlaufend weiter und neu zu lernen.

Julian Wichmann ist Facharzt und Geschäftsführer von Algea Care.

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