Im vergangenen Jahr wurde ein wichtiger Meilenstein für die Verbesserung der modernen klinischen Krebsforschung in Deutschland erzielt: Im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiierten Nationalen Dekade gegen Krebs wurde mit der Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) von zwei auf sechs Standorte mit insgesamt elf Uniklinika und dem DKFZ eine im internationalen Vergleich herausragende Plattform geschaffen, um akademisch getriebene, hochinnovative klinische Studien (Investigator Initiated Trials, IITs) in Deutschland durchzuführen. Die Erweiterung adressiert den lang beklagten Fakt, dass Deutschland im Vergleich zu anderen hochentwickelten Industrienationen im Bereich onkologischer Studien zurückfällt. Dies hat sich zu einem massiven Nachteil des Medizinstandortes mit unmittelbaren Auswirkungen auf Krebspatienten entwickelt.
Neben strukturellen Nachteilen, die jetzt durch die Erweiterung des NCT angegangen werden, stellen jedoch zahlreiche, teils überflüssige regulatorische Vorgaben eine weitere, derzeit oft unüberwindbare Hürde dar, die verhindert, dass Innovationen in die klinische Anwendung kommen. Dies betrifft nicht nur die Onkologie, sondern die gesamte Medizin. Deutschland ist zum Beispiel der einzige Mitgliedsstaat in der Europäischen Union, der mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) über gleich zwei Zulassungsbehörden mit unterschiedlichen Zuständigkeiten verfügt. Darüber hinaus geht die Bundesrepublik auch mit der Einbindung weiterer Behörden, wie dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und föderal organisierten Ethikkommissionen sowie mit den für die Herstellungserlaubnis verantwortlichen Regierungspräsidien, Sonderwege. Dies führt dazu, dass manche klinischen Studien hierzulande gar nicht erst durchgeführt werden. Neben der stetig sinkenden Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich sind nicht vertretbare Nachteile für die Patientenversorgung die Folge.
MFG: Bundes-Ethik-Kommission lange überfällig
Genau diese immensen Problematiken sollen mit dem vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) initiierten Medizinforschungsgesetz (MFG) behoben werden. Dabei wird der Sicherheit für Patienten weiterhin allerhöchste Priorität beigemessen. Der aktuelle Referentenentwurf adressiert unter anderem die Einrichtung einer übergeordneten Bundes-Ethik-Kommission, die aus meiner Sicht seit langem überfällig ist. Darüber hinaus sollen aber die dezentralen föderalen Ethikkommissionen fortbestehen. Hier muss sichergestellt werden, dass diese zukünftig auf verbindlicher Basis harmonisiert agieren.
Dabei sollten auch auf bestimmte Fragestellungen spezialisierte Ethikkommissionen entstehen. Die Arbeit von BfArM und PEI soll zukünftig durch das BfArM koordiniert werden. Eine optimal organisierte Zusammenarbeit dieser (und anderer) Behörden im Genehmigungsverfahren ist unbedingt zu begrüßen, allerdings wird bei der jetzt angestrebten Lösung beobachtet werden müssen, ob die Agilität innerhalb des Genehmigungsprozesses wie erwünscht erhöht wird, oder ob alternative Modelle, zum Beispiel ähnlich der Food and Drug Administration (FDA) der USA, vorteilhafter sind.
Eine weitere Verbesserung durch das MFG ist die Erstellung einheitlicher Richtlinien für die Herstellung neuartiger und zellbasierter Therapien. Gleiches gilt auch für die Entwicklung von Mustervertragsklauseln für klinische Studien – für deren konkrete Umsetzung im Übrigen die im Rahmen der NCT-Erweiterung entwickelten Rahmenverträge eine wichtige Grundlage liefern könnten. Erwähnt seien noch einige im Referentenentwurf vorgesehenen Vereinfachungen zum einen bei Studien, die zusätzlich unter den Strahlenschutz fallen, sowie zum anderen bei der Anwendung von niedrigen Strahlendosen bei minderjährigen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern. Diese und andere Maßnahmen werden wesentlich dazu beitragen, den gewaltigen Bürokratieapparat in Deutschland zu entschlacken und die Realisierung klinischer Studien zum Wohle der Patient:innen zu beschleunigen.
Breites Spektrum an Studien anbieten
Allerdings ist der Referentenentwurf noch zu eng gefasst und legt einen zu starken Schwerpunkt auf klinische Prüfungen mit Arzneimitteln und Medizinprodukten. Für die Krebsbehandlung sind dies zwar sehr wichtige – aber bei weitem nicht die einzigen Therapieformen. Was ist mit neuen operativen Verfahren, mit diagnostischen Verfahren wie der Endoskopie, der Strahlentherapie oder radiopharmazeutischen Medikamenten, oder dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und Robotik bei Diagnostik und Therapie? Auch hier müssen Innovationen aus dem Labor in klinischen Studien geprüft werden. Solche Studien, die oft akademisch getriebene IITs sind, finden aufgrund der überbordenden Genehmigungsbürokratie heute in Deutschland häufig nicht statt. Gerade für Patient:innen mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung – wie beispielsweise Krebs – ist es jedoch äußerst wichtig, dass ein breites Spektrum an klinischen Studien im eigenen Land angeboten wird. Denn diese Studien ermöglichen ihnen den Zugang zu einer innovativen Diagnostik und Behandlung als teilweise einzige Hoffnung auf eine Lebensverlängerung.
Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass ein umfassendes MFG auch eine Beschleunigung und Harmonisierung der Verfahren für andere Studienarten vorsieht und neben Studien aus der Industrie auch die Vielfalt akademischer IITs im Auge hat. Im jetzigen Entwurf ist zum Beispiel zwar das Anzeigeverfahren beim BfS im Rahmen von Arzneimittelstudien aber noch nicht das Genehmigungsverfahren für neue Strahlentherapieverfahren oder radiopharmazeutische Substanzen durch das BfS erfasst. Dieses untersteht dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV). Außerdem sind die sogenannten „Sonstige Studien“ nach der landesrechtlich verankerten Berufsordnung der Ärzte (BOÄ) für klinische Studien, zum Beispiel von operativen Verfahren, von großer Bedeutung.
Der jetzige Referentenentwurf hat sehr wichtige Verbesserungen angestoßen und sollte zeitnah Gesetz werden. Es muss aber in den nächsten wenigen Jahren gelingen, die aufgeführten fehlenden Komponenten zu ergänzen und im Schulterschluss mit den Ländern föderale Zuständigkeiten einzubeziehen. Dann würde das neue Gesetz auch dem Begriff „Medizinforschung“ gerecht, der eine Forschung suggeriert, die weit über diejenige mit Arzneimitteln hinausgeht – und dies ganz im Sinne der Patient:innen.
Professor Dr. Michael Baumann ist seit 1. November 2016 Vorstandsvorsitzender und Wissenschaftlicher Vorstand des DKFZ.