Endlos-Schlangen vor Europas Schlagbäumen, nationale Exportstopps für wichtige Arzneimittel und Intensivmediziner, die um ausreichend Narkosemittel für ihre Covid-19-Patienten bangen: Die Pandemie hat uns allen gezeigt, wie abhängig wir bei der Arzneimittelversorgung von Asien sind, wie fragil globale Lieferketten sind.
Zwar ist der Versorgungsengpass – Gottlob! – ausgeblieben. Alle Patienten – und gerade auf den Intensivstationen kam es für Covid-19-Patienten fast durchweg auf Generika an – wurden versorgt. Das aber konnte nur klappen, weil Generika-Hersteller einen beispiellosen Kraftakt vollbrachten, pragmatische Hilfe von den Behörden erhielten und wir ganz einfach Glück hatten. Auf keinen Fall sollten wir uns nach der Pandemie ausruhen und denken: Klappt’s einmal, klappt‘s immer.
Denn: Experten zufolge war diese Krise nicht die denkbar schwerste Erschütterung für Arzneimittel-Lieferketten. Cyberangriffe, Handelskonflikte und Naturkatastrophen können unsere Versorgung noch deutlich härter treffen. Auch die mit Generika, die Millionen von uns täglich benötigen.
Ein kleiner Schock in der Lieferkette – und die Versorgung ist gefährdet
Deren Lieferketten sind besonders komplex. So legt ein typisches Generikum auf seinem Weg vom Hinterland Chinas über Indien zu uns nach Europa rund 10.000 Kilometer zurück. Ein einziger Schock der Lieferkette – die Explosion im Werk, der Stau im Suezkanal, der Ausfuhrstopp Indiens – kann die gesamte Lieferkette ins Stocken bringen. Ein Stocken, das oftmals nicht überbrückt werden kann. Weil wir bei vielen Wirkstoffen von nur einigen wenigen Lieferanten abhängen und diese zudem mehrheitlich in einem kleinen Teil Asiens sitzen.
Warum das so ist? Weil die Herstellung für den in Deutschland herrschenden Preiswettbewerb sonst schlicht zu teuer wäre.
Stabilere Lieferketten wären wichtig – aber im Preissystem nicht abzubilden
Immer wieder hören wir: Macht eure Lieferketten wieder stabiler! Und wenn das mehr Geld kostet, erhöht eure Preise. Tatsächlich ist dieser Hinweis nur vordergründig sinnvoll. Denn in dem Preissystem, das die Politik für die Generika-Industrie geschaffen hat, ist er nicht durchsetzbar.
Ein Generikahersteller lebt davon, dass er Ausschreibungen der Krankenkassen gewinnt. Nur dann darf er die Patienten dieser Kasse versorgen. Die Ausschreibungen aber gewinnt derzeit ausschließlich derjenige, der den Kassen das Produkt am billigsten anbietet. Will nun ein Hersteller seine Lieferketten stabilisieren, um Patientinnen und Patienten sicherer versorgen zu können, muss er investieren: in einen zweiten Wirkstoffanbieter, ein weiteres Werk oder andere Sicherungen. Da es solche aber nicht zum Nulltarif gibt, müsste er seine Preise erhöhen.
Und genau das kann er nicht. Denn wenn er das tut, ist er nicht mehr der günstigste Anbieter und hat in Ausschreibungen keine Chance. Hinzu kommt, dass die Gesundheitspolitik die Preise für die meisten Arzneimittel seit Jahren eingefroren hat – damit müssen Kostensteigerungen in der Produktion allein vom Unternehmen aufgefangen werden.
Während deutsche Gesundheitspolitik spart – investiert Asien in die Arzneimittelproduktion
Das System, das die Politik da geschaffen hat, ist mithin so einfach wie wirkungsvoll. Es garantiert dem Gesundheitssystem maximale Einsparungen, aber es räumt der Versorgungssicherheit nur nachgelagerte Relevanz ein. Es begünstigt die Herstellung in Indien und China und führt zu einer Besorgnis erregenden Abwanderung in diese Länder. Schon heute beziehen wir zwei Drittel unserer Wirkstoffe von dort.
Denn während es der deutschen Gesundheitspolitik in den letzten zehn Jahren Jahre vornehmlich ums Sparen ging, hat der chinesische Staat massiv in die Produktion investiert. Durch wirtschaftspolitische Maßnahmen hat China sich einen Standortvorteil verschafft und eine Massenproduktion für Wirkstoffe in so großem Ausmaß etabliert, dass zuerst Europa und nunmehr auch Indien kostenmäßig nicht mehr mithalten können: Durchschnittlich 20 Prozent günstiger ist die chinesische Wirkstoff-Produktion im Vergleich zur indischen. Vom Vergleich mit der europäischen gar nicht zu reden.
Die indische Regierung hat darauf nun reagiert. Sie hat vor kurzem ein gewaltiges Investitionsprogramm zugunsten der heimischen Wirkstoffproduktion gestartet. Hersteller bestimmter Wirkstoffe werden bis zu sechs Jahre lang mit 20 Prozent des Jahresumsatzes unterstützt, wenn sie eine neue Wirkstoffproduktion errichten.
Deutschland zögert – anstatt sich für die nächste Krise zu wappnen
Und was macht Deutschland? Was plant Europa? Bislang geschieht zu wenig! Während wir hierzulande über eine Rückholung der Produktion nach Europa diskutieren, hat die EU-Kommission mit der „pharmaceutical strategy“ einen grundrichtigen, aber zu langsamen Prozess in Gang gebracht.
Wenn die deutsche Politik aus der Krise gelernt hat und sich vor weiteren Erschütterungen der Lieferketten schützen will, muss sie jetzt handeln. Es ist Zeit, dass die Politik gesetzliche Rahmenbedingungen ändert. Sie muss für die Krankenkassen-Ausschreibungen verbindlich vorschreiben, dass mehrere Rabattvertragspartner den Zuschlag erhalten. Außerdem muss es weitere Kriterien in den Ausschreibungen geben, nicht nur den billigsten Preis – sondern Kriterien, die die Lieferketten wieder stabilisieren. Und die neue Regierung muss – wie Indien es vormacht – die Produktion wichtiger, vorher definierter Wirkstoffe in Europa unterstützen. Nur so werden wir unabhängiger von der Einfuhr aus Asien.
Vor allem aber muss sie sich verantwortlich fühlen. Für das System des maximalen Kostendrucks, das die Politik selbst geschaffen hat. Sie darf sich nicht länger wundern, wenn die „Spieler im Markt“ sich nach den von ihr geschaffenen Spielregeln verhalten. Sie muss die Spielregeln ändern. Nur wenn sie abrückt vom obersten Dogma des Sparens, können Generika-Hersteller auch wieder investieren. In stabilere Lieferketten, in mehr europäische Produktion – und somit in die Prävention für die nächste Krise, die noch viel größere Erschütterungen der Lieferketten parat hält, als diese.
Bork Bretthauer ist Geschäftsführer von Pro Generika.