Im Bereich der psychischen Gesundheit hat sich schon sehr viel getan: Erkrankungen werden besser erkannt und weniger stigmatisiert. Themen wie Burnout und Depression sind besprechbar geworden und das Verständnis für die damit einhergehende große Belastung der Betroffenen wächst. Viele Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, sind inzwischen offen dafür, sich unterstützen zu lassen und suchen aktiv Hilfe – wenn auch nicht alle. Es scheint sich abzuzeichnen, dass der Bedarf für psychotherapeutische Angebote mit jeder neuen Generation noch weiter zunimmt. Laut einer Umfrage der deutschen Psychotherapeutenvereinigung hat sich die Nachfrage nach Psychotherapie unter Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu vor der Corona-Pandemie um 48 Prozent erhöht. Nimmt man die Anfrage von Erwachsenen mit dazu, liegt der Wert für die erhöhte Nachfrage nach einem Therapieplatz immer noch bei 40 Prozent.
Pandemie, Krieg und Klimakrise. Die Katastrophen und großen Herausforderungen, die wir als Gesellschaft gerade erleben und in Angriff nehmen sollen, verunsichern viele Menschen zutiefst und belasten ihre psychische Gesundheit. Hinzu kommt ein Leistungsdruck, der immer größer wird. Im Studium oder Job erfolgreich sein, sich gesund ernähren und ausreichend bewegen, gute Beziehungen pflegen und viel Zeit mit Familie und Freunden verbringen. Viele Menschen wollen in jedem Bereich ihr Bestes geben und fühlen sich davon extrem gestresst. Kommen dann persönliche Einschnitte oder Lebenskrisen dazu, führt das oft zum mentalen Kollaps. Was aber bedeutet das, wenn immer mehr Menschen ein psychotherapeutisches Angebot nachfragen, auf das Hilfesuchende schon jetzt durchschnittlich neun bis zwölf Monate warten müssen? Wir müssen die Psychotherapie weiter modernisieren, flexibler gestalten und dabei auch auf digitale Lösungen setzen.
Lange Wartezeiten und Verzweiflung
Das beginnt schon bei der Suche nach einem Therapieplatz. Für die meisten Betroffenen stellt dieser Schritt eine große Hürde auf dem Weg zur Besserung dar, denn es gibt kein gutes und einfaches System, das verfügbare Plätze anzeigt. Zudem fällt der Gang in eine psychotherapeutische oder psychiatrische Praxis nicht allen leicht. Suchende werden mit einer langen Kontaktliste konfrontiert, die sie abtelefonieren sollen. Was dann folgt sind meistens zahlreiche Anrufbeantworter, viele Absagen, lange Wartezeiten und Verzweiflung. Der Frust über diese Situation ist aber nicht nur bei den Suchenden, sondern auch bei den Therapeuten und Therapeutinnen groß. Viele berichten davon, wie schwer es ihnen jedes Mal fällt, jemanden wegzuschicken, der offensichtlich in großer Not ist. Hinzu kommt der große administrative Aufwand, der durch viele Einzelanfragen entsteht. All das würde durch ein zentrales und digitales System wegfallen. Im Bereich der allgemeinen medizinischen Gesundheitsversorgung gibt es da schon gute Fortschritte. Verschiedene Anbietende für Online-Terminvergabe erleichtern die Suche nach zeitnah freien Terminen bei einem Arzt oder einer Ärztin. Wann ziehen die Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen hier nach?
Ein zweiter Bereich, der dringend modernisiert und digitalisiert werden sollte, ist die Erstellung von Therapieanträgen und das Schreiben von Berichten. Therapeuten und Therapeutinnen beklagen immer wieder, dass bürokratische Aufwände sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, in der ihre Praxis für Hilfesuchende geschlossen bleibt.
Sinnvoll ist es außerdem, die häufig leider unstandardisierte Symptomabfrage an digitale Lösungen auszulagern. Inzwischen gibt es die Möglichkeit, mit Hilfe eines modernen und klinisch validierten Diagnosetools für die große Mehrheit psychischer Symptome und Krankheitsbilder innerhalb kürzester Zeit eine gesamtheitliche Diagnose zu stellen. Das erhöht die diagnostische Qualität vor allem bei komplexen und seltenen Störungsbildern. So werden außerdem wertvolle Kapazitäten frei, und die eigentliche Therapie kann schneller und zielgerichteter beginnen. Einen Blick in die Zukunft der Psychotherapie bieten erste Projekte, die darauf abzielen, Daten aus Biomarkern und Sensoren zu nutzen, um Anzeichen psychischer Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, schnellere Behandlungen zu ermöglichen und ihren Erfolg zu messen. In den USA sind verschiedene Start-ups bereits dabei, Daten aus Sprachanalysen und Stimmen zu nutzen, um Depressionen oder Angststörungen sowie deren Schweregrad vorauszusagen, und zwar ausschließlich mit dem Smartphone. Auch durch Bildanalyse, Sprechgeschwindigkeit und die Analyse von Daten aus Wearables wird sich die Psychiatrie der Zukunft ein Bild vom Zustand einer Person verschaffen können.
Keine Pläne zur Reform der Bedarfsplanung
Natürlich bedarf es neben der Übersetzung von bestehenden Prozessen in digitale Lösungen auch neue Entscheidungen aus der Gesundheitspolitik. Der Bedarf an Therapieplätzen wurde vor über 20 Jahren, genauer 1999, festgelegt und nie an die steigende Nachfrage angepasst. Genau aus diesem Grund hat sich die Ampel-Regierung auch im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren. Das lässt hoffen. Nur leider liegen bisher keine konkreten Pläne vor. Zudem müssen die Prozesse auch angepasst werden, um neue, digitale und hybride Journeys für Betroffene möglich zu machen. Wenn die Diagnose mit Hilfe eines digitalen Tools früher gestellt werden kann, können dann mehr Menschen versorgt werden? Dafür ist eine Anpassung der starren Vergütungssysteme nötig.
Gut, dass sich digitale Lösungen im Bereich der mentalen Gesundheit da sehr viel schneller weiterentwickeln und Menschen mit psychischen Beschwerden konkrete Unterstützung anbieten. Die Hemmschwelle, einfach zugängliche digitale Therapie-Programme mal zu testen, ist viel niedriger, als sich mit Therapeuten in Verbindung zu setzen. Betroffene können sich so an das Thema Psychotherapie herantasten oder Wartezeiten auf einen Therapieplatz überbrücken. Und auch für Therapeutinnen und Therapeuten können digitale Lösungen eine Hilfe sein, wenn Klienten und Klientinnen zum Beispiel ihre Stimmung zwischen den Sitzungen mit einem Tool tracken, statt mit Zettel und Stift.
So ist es für den behandelnden Therapeuten viel einfacher, Veränderungen nachzuvollziehen, sich auf die nächste Sitzung vorzubereiten und gezielt auf die aktuellen Bedürfnisse ihrer Klientinnen und Klienten einzugehen. Digitale Anwendungen tragen auch zur höheren Selbstwirksamkeit im Verlauf einer Therapie bei. Der einfache Zugang zu wissenschaftlich validierten Hintergrundinformationen über die eigene Diagnose, die Möglichkeit, positive Veränderungen leichter nachzuvollziehen, all das stärkt Betroffene in der Annahme, sich auf dem Weg der Besserung zu befinden und erhöht die Chancen auf einen Therapieerfolg. Mit sinnvollen digitalen Lösungen gewinnen alle.
Laura Henrich ist CEO von Klenico. Das Unternehmen unterstützt Menschen mit psychischen Beschwerden, die richtige Diagnose zu erhalten und die passende Therapie zu finden.