Die Diskussionen um die Corona-App sind kaum verklungen, da lohnt sich der Blick auf ein weiteres digitales Projekt im Gesundheitswesen. Ab erstem Januar 2021 müssen gesetzliche Krankenkassen ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) anbieten, bei der sich ebenso wie bei der Corona-Tracing-App die Frage der zentralen oder dezentralen Datenspeicherung stellt. Ein von Gesundheitsminister Jens Spahn vorgelegter Entwurf zu einem „Patientendaten-Schutzgesetz“ ist bereits Anfang April im Kabinett verabschiedet worden. Durch die Corona-Aufregung hat das kaum jemand mitbekommen – wie insgesamt das weltgrößte IT-Projekt bisher eher an den Bürgern vorbei eingeführt wird.
Fragt man sie danach, winken viele eher erschöpft ab, bedeutet dies doch wieder ein digitales Tool mehr, bei dem man sich um Datenpflege, Sicherheit und Updates kümmern muss. Einer Umfrage zufolge ist ein Drittel der Bevölkerung von Dynamik und Komplexität der Digitalisierung überfordert. Vor allem ältere Menschen nutzen daher weniger das Internet. Sie aber wären es mit ihren oft chronischen Krankheiten und der Einnahme mehrerer Medikamente, die vielleicht einen Vorteil von dieser e-Akte haben könnten.
Im Notfall muss es ohne PIN gehen
So sollen darin ein Medikationsplan und Notfalldaten gespeichert werden, ebenso Bildaufnahmen sowie Arztbriefe, Impfpass und Allergieausweis. Ein solcher auf Papier aber, meint Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, nütze einem Notarzt bei einem bewusstlosen Patienten mehr, der zudem auch keine PIN und Passwörter mehr angeben könne, um den Zugang zu den verschlüsselten Daten zu ermöglichen. Röntgen- und Kernspinbilder wiederum können nur im pdf-Format gespeichert werden, so dass allein aus Haftungsgründen weiter die Originalbilder in der Praxis vorgelegt werden müssen. Und gefährliche Wechselwirkungen können längst durch entsprechende Datenbanken in der ärztlichen Praxissoftware vermieden werden.
Im Gesundheitswesen haben wir eigentlich andere Probleme: noch immer hängt der Gesundheitszustand der Deutschen stark von ihrem Sozialstatus ab. Arm macht weiterhin krank, reich eher gesund. Für Verhaltensweisen wie Fehlernährung, Rauchen oder mangelnde Bewegung, die zu den heute im Vordergrund stehenden chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes führen, wäre Prävention sinnvoller als später Krankheitsbefunde speichern zu müssen. Die entsprechende Beratung dazu erfordert jedoch analogen Kontakt, Zeit, Vertrauen und Beziehung. Weiter stellte die EU-Kommission vergangenes Jahr fest, dass das deutsche Gesundheitswesen zwar viele Leistungen auf hohem Niveau biete. Es sei damit aber teurer als das der meisten anderen EU-Länder, die Gesundheitsergebnisse jedoch würden nur dem europäischen Durchschnitt entsprechen.
Milliarden wären besser in Pflege investiert gewesen
Dabei fällt immer wieder der hohe Technikeinsatz hierzulande auf – eine Schieflage, die sich durch die e-Akte noch weiter verschärft. Bei zunehmender Überalterung der Gesellschaft werden stattdessen mehr Pflegekräfte benötigt, die mit persönlicher Beziehung vor Ort helfen, etwa Patienten waschen, Wunden versorgen oder Stützstrümpfe an- und ausziehen. Die Milliarden Euro, die das Projekt der elektronischen Patientenakte und die dazu in den Praxen nötigen Technik bereits verschlungen hat, wären in einer Stärkung dieses Berufsbildes besser investiert gewesen, wie auch die Coronakrise wieder schmerzhaft deutlich gemacht hat.
Ohne erkennbaren Nutzen, und ohne Transparenz, gerade was die geplante Datenverwendung angeht, wird bei der e-Akte – wie bei der Corona-App – in der Bevölkerung nicht das nötige Vertrauen erreicht werden können. Das aber wäre wichtig, damit es bei der versprochenen Freiwilligkeit der Nutzung bleiben kann. Wenn aber nun schon bei der Corona-App Politiker Steueranreize dafür fordern, kann man sich unschwer vorstellen, welche Anreize Krankenkassen wiederum anbieten könnten, damit die e-Akte angenommen wird. Der neue Gesetzentwurf regelt etwa, dass Krankenkassen ihren Versicherten „Zusatzangebote“ machen können, wenn diese ihre Daten ihnen gegenüber offenlegen. Für eine kostenlose Rückenschulung etwa wird das sicher so mancher arglos tun.
Der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte hat zudem erst vor Kurzem darauf hingewiesen, dass die datenschutzrechtliche Verantwortung für die Datenverarbeitung in der komplexen Technik, die für die e-Akte nötig ist, in unklarer Weise geregelt und zum Nachteil der Patienten derart aufgesplittert ist, dass ihm die Durchsetzung seiner Betroffenenrechte vielfach unmöglich gemacht wird. Sein Fazit: „Das Patientendaten-Schutzgesetz hält nicht, was sein Name verspricht.“ Wie zu erfahren war, hat auch die Überarbeitung bis zur Vorstellung im Kabinett die Bedenken nicht wesentlich entkräften können.
Datenschutzfolgeabschätzung fehlt bis heute
Denn während bisher die Patienteninformationen unter strenger Wahrung der Schweigepflicht in der Praxisakte oder im lokalen Computer verblieben waren, sind nun an der Datenverarbeitung die gematik als Betreibergesellschaft sowie etliche IT-Firmen wie IBM oder die Bertelsmann-Tochter Arvato durch den Betrieb der Netzstruktur, der e-Akten und der hierfür nötigen Server beteiligt. Eine Datenschutzfolgeabschätzung aller Beteiligten jedoch fehlt bis heute. Unklar bleibt auch, wer über Kopien der Datenschlüssel verfügen wird, die für die Sicherung der Dokumente und Akten nötig sind.
Insgesamt ist das Projekt somit für Patienten, Ärzte und letztlich wohl auch für Politiker undurchschaubar. Die Akzeptanz fördert das eher nicht. Eine Petition, die im Juni vor dem Bundestagsausschuss in Berlin verhandelt wird, fordert daher neben einer dezentralen Datenspeicherung auch die Aufrechterhaltung einer echten Freiwilligkeit für die Nutzer der elektronischen Patientenakte. Dies betrifft Patienten, aber auch Ärzte und Therapeuten, denen bei Nicht-Anschluss an die nötige Technik jetzt schon 2,5 Prozent ihres Honorars abgezogen werden. Ein Notstand im Gesundheitswesen, der solchen Zwang rechtfertigen würde, ist nicht erkennbar.
Die Corona-App wird nur dann von ausreichend vielen Menschen genützt werden, wenn sie nicht daneben andere Zwecke verfolgt. Genau das scheint bei der elektronischen Patientenakte gegenwärtig noch das Ziel zu sein. Wenn sie schon eingeführt werden soll, trotz weiter fraglichen Nutzens, ist Transparenz zur Schaffung nötigen Vertrauens unabdingbar. Sonst bleibt der bisherige Eindruck bestehen, dass damit vielmehr Daten für Forschung und Industrie gesammelt werden sollen, und somit das Projekt mehr Wirtschafts- als Gesundheitsförderung ist.
Andreas Meißner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in München sowie Sprecher des Bündnisses für Datenschutz und Schweigepflicht, in dem über 60 Ärzte und Psychotherapeuten zusammengeschlossen sind.