Wer kennt es nicht: Immer mehr Aufgaben, für die immer weniger Zeit bleibt, ob im Job, in der Familie – oder in der Arztpraxis. Gerade in der Versorgung tickt die Uhr schnell, für Patient:innen und alle, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Stress pur. Da bleibt viel auf der Strecke. Nach Corona sollte alles anders werden. Doch das scheint mittlerweile so weit weg wie der Applaus vom Balkon. Weit genug, um nicht selbst involviert zu sein.
Dabei sind wir alle mittendrin: Wir sind Patient:innen und Angehörige, wir tragen Verantwortung für uns und für andere. Und weil das so ist, lohnt sich ein Blick auf das Gesundheitssystem mit der Frage: Wie wollen wir behandelt werden? Welche Erwartungen haben wir an die Versorgung, wie möchten wir uns als Patient:in fühlen? Und: Wie steht es um Ärzt:innen, Pflegefachpersonen und alle anderen Beschäftigten in Arztpraxen, Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen? Wie erleben sie das Gesundheitssystem, was würden sie gern ändern?
Zu diesem Thema hat die Berliner SNPC GmbH im Juli 2024 Vertreter:innen aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens zu einem hybriden Workshop eingeladen, um die Sicht von Patient:innen, Angehörigen, Medizin, Pflege und Wissenschaft zusammenzutragen. Konsens der interdisziplinären Runde: Ein wertebasiertes Gesundheitssystem muss sich an den Bedürfnissen der Patient:innen orientieren – oder besser ausgedrückt: an uns allen, die medizinische Hilfe brauchen.
Zeitenwende im Gesundheitswesen
Wichtig ist dabei Kommunikation auf Augenhöhe. Als Patient:in werden wir häufig immer noch in eine passive Rolle gedrückt, die für die meisten Menschen heute einfach nicht mehr passt. Wir verlieren nicht unsere Persönlichkeit, wenn wir Hilfe brauchen. Und wir brauchen im Krankheitsfall oft viel mehr Unterstützung, als der medizinische Bereich bieten kann. Deshalb ist es an der Zeit, die alten Rollenbilder hinter sich zu lassen und sich neu zu orientieren.
Das gilt spiegelbildlich auch für diejenigen, die im medizinischen oder pflegerischen Bereich tätig sind. Auch unsere Mitmenschen in diesen großartigen Berufen sollten befreit werden von alten Rollenbildern und teilweise überzogenen Erwartungen derjenigen, die zu ihnen kommen. Wir brauchen also ein neues Miteinander, eine Zeitenwende im Gesundheitswesen.
Konkrete Ansätze für eine neue Ausrichtung bietet das Thesenpapier „Auf dem Weg zu einem wertebasierten Gesundheitssystem – Partizipation neu denken“, das auf Basis des Workshops entstanden ist, herausgegeben von Wolfgang Branoner, geschäftsführender Gesellschafter SNPC GmbH, unter der Mitwirkung von zahlreichen Expert:innen aus Gesundheitswesen und Zivilgesellschaft.
Was ist zu tun? Gemeinsam entwickelte die Gruppe eine Reihe von Lösungsansätzen auf dem Weg zu einem wertebasierten Gesundheitssystem:
Zugang für alle ermöglichen
Der grundsätzliche Anspruch des Gesundheitswesens in Deutschland soll auch in Zukunft darin bestehen, die gesundheitliche Versorgung von der Prävention bis zur Therapie und Nachsorge so aufzustellen, dass sie allen zugänglich ist.
Gemeinsam Verantwortung übernehmen
Die Beteiligten der Selbstverwaltung sollten vorangehen, sich ihrer Verantwortung für Patient:innen und System stärker bewusst werden und gemeinsam nach Lösungen streben. Auf allen Ebenen sollte jeder und jede auf den eigenen konkreten Beitrag blicken und überlegen, wo zukünftige Chancen liegen.
Krisen der Gegenwart als Chance für gemeinsam gestaltete Veränderungen
Themen wie Globalisierung, Digitalisierung oder demografischer Wandel bringen vieles in Bewegung und verändern auch die Rolle der Patient:innen im Gesundheitssystem. Diesen Prozess gilt es zu nutzen und Patient:innen die Möglichkeit zu eröffnen, Veränderungen mitzugestalten.
Gesundheitliche Versorgung vor Ort als Beitrag für gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen
Eine gute gesundheitliche Versorgung ist eine der zentralen Komponenten der Daseinsvorsorge in den Kommunen und Kreisen. Deshalb sollten kommunale Vertreter:innen in die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems eingebunden werden.
Legitimation des Systems stärken durch partizipative Ansätze
Ein hoher Grad an Partizipation stärkt die Legitimation des Gesamtsystems und seiner Institutionen. Daher ist es besonders wichtig, die gesundheitliche Versorgung unter Einbezug aller Beteiligten partizipativ zu gestalten.
Bildung, Forschung und Prävention zukunftsfest aufstellen
Die Ausbildung künftiger Gesundheitsfachleute in Medizin, Pflege und Patientenvertretung muss reformiert und an aktuelle Herausforderungen angepasst werden. Die Patienteneinbindung in die Gestaltung klinischer Studien sollte verbessert und standardisiert werden. In der Prävention müssen vorhandene Daten und Informationen sinnvoller genutzt und Anreize zur Vorsorge erhöht werden.
Qualitätsentwicklung statt mehr Kontrolle
Obwohl Kontrollen im Gesundheitswesen stetig zunehmen, verbessern sie die Versorgungsqualität nicht. Diese beschränkende Reglementierung von Medizin und Pflege ist problematisch, da sie Ressourcen bindet und individuelles Engagement bremst. Stattdessen: Behandlungsqualität und
-sicherheit, Effizienzsteigerung und Patientenzufriedenheit als verbindliche Ziele definieren.
Stärkung der individuellen Gesundheitskompetenz
Um von Anfang an Erkrankungen vorzubeugen, sollte Kindern und Jugendlichen ausreichendes Gesundheitswissen vermittelt werden; zudem müssen auf breiter gesellschaftlicher Basis die Kompetenzen hinsichtlich Prävention, Selbstmanagement und Selbstpflege gestärkt werden.
Kinder und junge Menschen einbeziehen
Viele Kinder und junge Menschen empfinden große Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Zukunft. Ihre Perspektiven und Bedürfnisse müssen in einem nachhaltigen Gesundheitssystem stärker berücksichtigt werden – das gilt insbesondere für chronisch kranke Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien.
Dominanz von Finanzierungsfragen verringern, wirtschaftliches Denken erhalten
Ein zentrales Thema in Politik, Wirtschaft und Selbstverwaltung sind Fragen der Kostenersparnis. Diese haben bei vielen Entscheidungen eine höhere Priorität als die Patientenorientierung. Hier müssen wir umdenken. Ein weiterentwickeltes Wirtschaftlichkeitsprinzip kann dazu beitragen, neue Anreize für Investitionen zu schaffen.
Das Gesundheitswesen ist wesentlich für uns. Eine gute Vorsorge, Fürsorge und Versorgung ermöglicht uns, uns als Teil einer Familie, eines Teams, in Nachbarschaft, Vereinen oder sogar länderübergreifenden Netzwerken einzubringen und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Schaffen wir gemeinsam Rahmenbedingungen dafür, die sowohl das Wesen der Medizin als auch das des Menschen ernst nehmen.
Christina Claußen ist Senior Director Patient Advocacy von Pfizer in Deutschland. Sie leitet seit 2002 den von ihr initiierten jährlichen Pfizer-Patienten-Dialog, eine Plattform für den gleichberechtigten Austausch zwischen Patientenvertretung, Medizin, Industrie, Politik und Wissenschaft.