Bereits vor der Pandemie war die berufliche Pflege in Deutschland im Krisenmodus. Bei einer sowieso schon unzureichenden Personalausstattung dauert es sehr lange oder es ist unmöglich, neue Stellen zu besetzen. Im Mai gab die Bundesagentur für Arbeit durchschnittliche Zeiten von 205 Tagen in der Altenpflege und 174 in der Krankenpflege an. Es liegt eine Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch, wie eine Verbesserung der Lage zu erreichen wäre. Zum Teil wurden diese in der Konzertierten Aktion Pflege von drei Bundesministerien aufgegriffen. Doch zu den zentralen Entwicklungspunkten (Personalbemessung, Allgemeinverbindlicher Tarifvertrag, Aufgabenverteilung) gibt es Corona-bedingt Stillstand. Die Herausforderungen der Pandemie haben die grundsätzlichen Probleme der beruflichen Pflege noch deutlicher gezeigt.
In der Pandemie selbst ist in den Krankenhäusern das Chaos ausgeblieben. Bis auf regionale Hotspots gab es keine größeren Versorgungsprobleme. Mit einem Kraftakt aller Beteiligten wurde die Vorbereitung (zum Beispiel die Bereitstellung von Intensivbetten) gestemmt. Dann blieb ja auch die befürchtete Welle von Erkrankten aus und wir mussten nicht „italienische Verhältnisse“ erleben. Ganz anders die Situation in der Langzeitpflege. Hier war vor allem die Versorgung mit Schutzmaterialien ein Riesenproblem. Es herrschte große Verunsicherung, teilweise Angst, was das für die Versorgung, aber auch die eigene Gesundheit bedeutet. Hier gab es in der ansonsten ja gut gelungenen politischen Bewältigung der Krise eine Zeit lang einen blinden Fleck zum Ausmaß des Problems.
Auch bei den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen gab es große Unsicherheit. Zum Teil wurde Pflegenden des ambulanten Pflegedienstes aus Angst vor Ansteckung der Zugang zur Wohnung verwehrt, Besucher wurden nicht mehr in die Pflegeheime gelassen und es gab Schwierigkeiten bei der Isolierung von infizierten Bewohner/innen im Pflegeheim oder bei der Wiederaufnahme bei der Entlassung aus dem Krankenhaus. Vieles davon hat sich gelöst. Ob das als Vorbereitung für eine mögliche zweite Welle der Pandemie ausreichen wird, bleibt abzuwarten. Die Pflegenden haben in der Pandemie ihre hohe Leistungsbereitschaft und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft demonstriert. Aus Sicht des Berufes liegt der politische Fokus inzwischen eher bei den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie als bei den Lehren, die für das Gesundheitssystem und die Pflege zu ziehen sind.
Kernproblem in der Pflege sind in allen Bereichen die niedrigen Personalschlüssel. Es müssen zu viele Patient/innen beziehungsweise Bewohner/innen von zu wenigen Pflegefachpersonen versorgt werden. Auch in der ambulanten Pflege ist der Zeitdruck enorm hoch. Hinzu kommt, dass freie Stellen nur schwer besetzt werden können. Das bedeutet enormen Druck für die Pflegenden und dass es bei jeglichem Ungeplanten keine Kompensationsmöglichkeiten gibt. Deshalb ist der Dienstplan meist unzuverlässig, weil bei Erkrankung einer Kollegin jemand aus dem Urlaub einspringen muss. Dies reduziert die Zeit zur Erholung, bedeutet auch Stress im sozialen Umfeld und führt zu erhöhten Ausfallzahlen wegen Krankheit. Wegen des Personalmangels wird häufig bei der Versorgung rationiert, „weniger Wichtiges“ wird unter Zeitdruck weggelassen. Das ist schlecht für die Versorgungs- und Lebensqualität der Menschen mit Pflegedarf und schlecht für die Berufszufriedenheit der Pflegenden, die ständig ihre eigenen fachlichen und ethischen Standards verletzen müssen.
Großes Süd-Nord-Gefälle
Hinzu kommt die schlechte Bezahlung. Es gibt enorme Unterschiede zwischen den Versorgungsbereichen und Regionen. Verkürzt formuliert ist die Bezahlung von Pflegenden im Krankenhaus im Süden der Republik am höchsten und in der ambulanten Pflege im Nordosten am niedrigsten. Die Gehaltsunterschiede betragen etliche hundert Euro pro Monat. Wegen der während der Pandemie entdeckten Systemrelevanz der Pflegeberufe und der besonderen Belastung wurde anfangs applaudiert und dann eine Coronaprämie beschlossen. Die sorgt allerdings im Beruf für mehr Unmut als gefühlte Anerkennung. Die Prämie von 1.000 Euro wird nämlich nicht an Pflegende im Krankenhaus bezahlt. Der Aufschlag von 500 Euro oder eigene Prämien, die die Bundesländer bezahlen, sind sehr unterschiedlich geregelt. Das Argument, ausschließlich die Altenpflege sei berücksichtigt, weil dort die Gehälter so niedrig seien, ist nicht überzeugend. Denn die Prämie ist ja als Anerkennung der besonderen Belastung gedacht und nicht zur Kompensation einer von Hause aus zu niedrigen Bezahlung. Diesem Argument folgend müssten nämlich vor allem Reinigungspersonal und Kassierer/innen eine Prämie erhalten. Es muss sowohl zu einer deutlich besseren Vergütung in der Pflege kommen als auch zum Ausgleich des Gehaltsgefälles zwischen den Versorgungsbereichen.
Schließlich muss endlich pflegerische Fachexpertise anerkannt und genutzt werden. Auch die Aufgabenverteilung zwischen den Gesundheitsberufen ist verbesserungsbedürftig. Es gibt zu viele rechtliche und bürokratische Hindernisse. Pflegende können mehr als sie dürfen! Es gibt enormes Potenzial für eine Aufgabenausweitung, insbesondere wenn zukünftig mehr Pflegefachpersonen ihre Ausbildung an Hochschulen machen. Wir wissen, dass die Versorgungsbedarfe sich erheblich verändert haben. Immer mehr Menschen leiden an chronischen Krankheiten, wir kennen den Zusammenhang von sozialen Faktoren und Gesundheit und werden immer älter. All das verlangt nach einer angepassten Gesundheitsversorgung mit Schwerpunkten in der Primärversorgung und der Prävention.
Eine Verbesserung all der genannten Aspekte würde für eine deutliche Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe sorgen. Die aktuelle Jugendbefragung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums hat gezeigt, dass sich 21 Prozent der Jugendlichen grundsätzlich vorstellen können, in der Pflege zu arbeiten. Allerdings müssten Arbeitsbedingungen, Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten besser werden, um dieses Potenzial zu nutzen. Jugendliche haben also einen realistischen Eindruck von der Situation in der Pflege. Angesichts der steigenden Herausforderungen muss alles darangesetzt werden, Pflegende im Beruf zu halten und Nachwuchs zu gewinnen.
Es gilt keine Zeit zu verlieren, denn angesichts der Bundestagswahlen im Herbst 2021 ist das Zeitfenster für Gesetzesvorhaben nicht mehr groß. Zur Personalbemessung liegen für die Pflegeheime und die Krankenhäuser konkrete Vorschläge auf dem Tisch. Diese müssen jetzt diskutiert und auf den Weg gebracht werden. Die Pflegenden stimmen mit den Füßen ab und etwa 40 Prozent gehen in den nächsten zehn bis zwölf Jahren in Rente. Das sollte eigentlich ausreichend Motivation für politisches Handeln bewirken.
Dr. h.c. Franz Wagner ist seit 2017 Präsident des Deutschen Pflegerats, er übernahm das Amt von Andreas Westerfellhaus, der heute Pflegebeauftragter der Bundesregierung ist. Der gelernte Krankenpfleger Wagner war Lehrer für Pflegeberufe, Direktor des Instituts für Pflegeforschung am Klinikum Nürnberg. Neben seinem Präsidentenamt beim Pflegerat ist er zudem Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.