Erweiterte Suche

Gesundheit & E-Health

Standpunkte Gesundheit der Care-Arbeitenden als gesamtgesellschaftliches Anliegen

Yvonne Bovermann ist Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks
Yvonne Bovermann ist Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks Foto: Müttergenesungswerk

Die Gesundheit von Eltern und pflegenden Angehörigen hat besonders unter der Coronapandemie gelitten. Doch trotz ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz werde Sorgearbeit nach wie vor als private Angelegenheit gesehen, kritisiert Yvonne Bovermann. Sie appelliert an die Politik, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Gruppe besser zu schützen und versorgen.

von Yvonne Bovermann

veröffentlicht am 18.04.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Wenige Studien befassen sich explizit mit dem Thema. Wenn sie es tun, sind die Ergebnisse alarmierend. Ende 2019 waren 24 Prozent der Mütter und 14 Prozent der Väter einer befragten Gruppe gesundheitlich so belastet, dass sie sofort ein ärztliches Attest für eine dreiwöchige Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme (eine sogenannte Mutter- oder Vater-Kur, mit oder ohne Kinder) bekommen hätten. Handelte es sich um Eltern, die ein Kind mit Behinderungen versorgen, sind es 75 Prozent der Eltern, die deutliche Symptome der psychischen und körperlichen Überlastung zeigen. Für diese vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene Studie wurden die Daten kurz vor der Pandemie erhoben.

Zusätzlich zeigte der AXA Mental Health Report 2022, dass die psychische Gesundheit von Müttern in Deutschland im europäischen Vergleich während der Coronapandemie am meisten gelitten hat. Sie erreichten mit 7,3 auf einer Skala von 10 Punkten den höchsten Stresslevel im Vergleich mit anderen Frauen und Männern – höher als in allen anderen Ländern. Der Unterschied? Sie hatten besonders oft temporär keine Möglichkeit, Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen.

Das Müttergenesungswerk wertet zudem jährlich eigene Daten aus den Kliniken, den Beratungsstellen und der Befragung der Patient*innen des MGW-Verbunds aus. Die häufigsten Diagnosen bei Kurantritt waren auch 2022 psychische Symptome wie Erschöpfung bis zum Burnout, Angstzustände, Schlafstörungen, depressive Episoden und andere akute Belastungsreaktionen.

Die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ist in Gefahr

All diese Daten und Erkenntnisse finden wenig Widerhall in der Politik oder im Gesundheitswesen. Doch die Gesundheit von Müttern, Vätern und Pflegenden ist nicht nur innerhalb der Familien von Bedeutung. Sie spielt vielmehr eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft und hat auch wirtschaftliche Auswirkungen. Angesichts des demografischen Wandels und des einhergehenden akuten Personalmangels ist es geradezu absurd, dass das Augenmerk nicht oder zu wenig darauf gelenkt wird, vorhandene (potenzielle) Arbeitskräfte nicht zu verschleißen. Denn obwohl immer mehr Branchen unter Druck geraten, obwohl wir einen Pflegenotstand haben, obwohl Schulen und Kitas ihren Bildungsauftrag oft nur noch eingeschränkt erfüllen können, nehmen wir es in Kauf, dass so viele Mütter, Väter und pflegende Angehörige an der Doppelbelastung aus Sorgearbeit und Beruf zu zerbrechen drohen. Die Frage muss sein: Was macht diejenigen, die sich um die Schwachen in der Gesellschaft kümmern, krank? Und was hält sie gesund?

Die Überalterung der Gesellschaft prägt unser Land, und die Bedeutung der Leistungsfähigkeit von Müttern, Vätern und pflegenden Angehörigen nimmt kontinuierlich zu. Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt, auf fünf Millionen. Etwa fünf von sechs von ihnen werden zu Hause versorgt. Die Care-Arbeitenden sind im Verhältnis weniger geworden, und der Trend wird sich fortsetzen. So sind sie eine unverzichtbare Säule unserer Gesellschaft. Dennoch findet ihre Situation kaum Beachtung, auch die Pandemie hat es deutlich gemacht: Während und nach der Pandemie sind zahlreiche Studien und Warnmeldungen zur Gesundheit der Kinder veröffentlicht worden. Die Frage nach der Gesundheit der Eltern wird meist vernachlässigt.

Dramatische Zahlen ohne politische Konsequenz

Während in der Wirtschaft die Bedeutung der betrieblichen Gesundheitsförderung mittlerweile bekannt ist und große Anstrengungen unternommen werden, um Arbeitnehmende gesund zu erhalten, ist der „Arbeitsplatz“ Care-Arbeit nicht nur unentgeltlich, sondern auch ohne jegliches staatliche Interesse daran, dass die Sorgearbeitenden durchhalten. Dabei führen unzureichende Gesundheitsvorsorge und Prävention zu einem Anstieg von Krankheitsfällen. Dieser wurde erst kürzlich als Ursache für die aktuelle Rezession identifiziert. Familie und die notwendige Sorgearbeit wird als Privatsache angesehen, einzig der Anspruch auf eine Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme für Mütter, Väter und Pflegende ist gesetzlich als Versicherungsleistung verankert. Seit der Coronapandemie beobachten wir im MGW eine massenhafte Nachfrage nach Kurmaßnahmen, die seit dem letzten Jahr nicht mehr zeitnah bedient werden kann. Das Ergebnis: Männer und Frauen warten bis zu einem Jahr auf ihren Kurplatz.

Zu erwarten wäre, dass daher alles getan wird, um die Kapazitäten zu erweitern und den Kurbedürftigen umgehend ein nachhaltiges Angebot zur Genesung und Stärkung zu ermöglichen. Im letzten Jahr mussten wir allerdings mit aller Kraft gegen die geplante Streichung der Baufördermittel kämpfen, die zwingend notwendig sind, damit überhaupt neue Plätze entstehen.

Gesunde Sorgearbeitende: Ein nationales Gesundheitsziel

Die Gesundhaltung der Care-Arbeitenden ist als strategische Investition in die Zukunft zu betrachten. Das bedeutet, dass die Belastung durch die Sorgearbeit auf mehr Schultern verteilt werden muss.

Die wichtige Analyse der krankmachenden und gesunderhaltenden Faktoren kann durch ein Nationales Gesundheitsziel „Gesundheit der Care-Arbeitenden – Mütter, Väter, pflegende Angehörige“ erfolgen. Wie schon bei den anderen Nationalen Gesundheitszielen würde zuerst ein Gremium von Fachleuten, Wissenschaftler*innen und Betroffenen die Situation analysieren. Der Gesundheitszustand der Sorgearbeit-Leistenden muss dann regelmäßig erhoben werden, genauso wie der Effekt von besseren Betreuungsangeboten sowohl für Kinder als auch für Pflegebedürftige. Und Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen, die nachweisbar einen nachhaltigen positiven Effekt auf die Gesundheit der Care-Arbeitenden haben, müssten wirklich allen Betroffenen zur Verfügung stehen.

Ein Nationales Gesundheitsziel würde die Ausgangslage schaffen, um systematisch die notwendigen Maßnahmen ergreifen zu können. Wenn der politische Wille vorhanden wäre, könnte man aber auch schon jetzt viele Schritte umsetzen, um die Gesundheit der Mütter, Väter und pflegenden Angehörigen zu schützen und zu stärken.

Yvonne Bovermann ist seit dem 1. Oktober 2021 Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks. Sie ist ausgebildete Hebamme, Gesundheitspädagogin (BA) und Managerin für Einrichtungen im Gesundheitswesen (MSc.). Ab 2015 war sie im Präsidium des Deutschen Hebammenverbandes e.V. tätig, ab 2016 hauptamtlich.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen