Die aktuelle Diskussion in Deutschland, angestoßen durch den Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen, geht aus unserer Perspektive am eigentlichen Kern des Problems vorbei. Der hohe Krankenstand in Deutschland, der sich laut Statistischem Bundesamt und DAK-Gesundheit in den letzten Jahren stark erhöht hat, ist auch auf impfvermeidbare Atemwegserkrankungen zurückzuführen. Anstatt Symptome zu bekämpfen, sollten wir uns auf die Wurzel des Problems konzentrieren: die Prävention.
Die deutsche Wirtschaft stagniert aktuell mit einem prognostizierten Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent im Jahr 2024. Industriestarke Bundesländer wie Bayern verzeichnen bereits einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Ein wesentlicher Faktor für diese negative Entwicklung sind die steigenden Krankenstände, die sich negativ auf die Wertschöpfung auswirken. Im Jahr 2023 fehlten Beschäftigte im Schnitt 20 Tage, was zu einem Gesamtverlust von über 50 Milliarden Euro in der deutschen Wirtschaft führte. Besonders betroffen sind systemrelevante Berufe wie Pflege und Kinderbetreuung, wo die krankheitsbedingten Fehlzeiten besonders hoch sind.
Präventionsorientierte Gesundheitsversorgung nötig
Um diese Problematik nachhaltig zu lösen, ist ein Paradigmenwechsel hin zu einer präventionsorientierten Gesundheitsversorgung notwendig. Impfen spielt hierbei eine zentrale Rolle. Impfungen sind ein essenzieller Bestandteil der Primärprävention, sie stärken die Immunabwehr und verhindern Krankheit bereits vor ihrer Entstehung. Impfprogramme haben zudem eine kollektive Schutzwirkung und sind besonders wichtig für vulnerable Gruppen wie ältere Menschen und Personen mit geschwächtem Immunsystem.
Die derzeitige Diskussion um Lohnstreichungen berücksichtigt nicht die Bedeutung der Prävention und könnte sogar kontraproduktiv wirken, indem sie „Präsentismus“ – das krank zur Arbeit Erscheinen – fördert. Dies schadet nicht nur der Gesundheit der Beschäftigten, sondern erhöht auch das Risiko von Ansteckungen und Unfällen am Arbeitsplatz.
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine stärkerer Fokussierung auf Prävention, zum Beispiel konkret in Form von Impfungen, der Schlüssel zu einer gesünderen Gesellschaft und einer stärkeren Wirtschaft ist. Ein stärker präventiv ausgerichtetes Gesundheitssystem könnte langfristig die Morbidität komprimieren, altersassoziierte Krankheiten verzögern und den Bedarf an medizinischen Leistungen reduzieren. Investitionen in Gesundheitsprävention könnten laut einer Berechnung von McKinsey die Wirtschaftskraft in Deutschland bis zum Jahr 2040 um bis zu 415 Milliarden Euro steigern.
Ganzheitlicher Ansatz gefragt
Ein präventionsorientiertes Gesundheitssystem würde nicht nur die Krankheitslast verringern, sondern auch die Resilienz der Gesellschaft gegenüber zukünftigen Gesundheitskrisen stärken. Zudem könnte es die Arbeitsproduktivität erhöhen und die Arbeitsbedingungen insbesondere in belasteten Berufsgruppen verbessern. Durch regelmäßige Gesundheitschecks, Impfkampagnen und Aufklärungsarbeit kann die Gesundheit der Bevölkerung proaktiv gefördert werden.
Wäre es nicht an der Zeit, den Kurs zu ändern und eine präventionsorientierte Gesundheitsstrategie zu verfolgen, die sowohl die Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Bevölkerung verbessert als auch die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands sichert? Nur durch einen ganzheitlichen Ansatz, der Prävention in den Mittelpunkt stellt, können wir die Herausforderungen des hohen Krankenstandes und der wirtschaftlichen Belastung nachhaltig bewältigen.
Dr. med. Kai Richter ist Medizinischer Direktor und Mitglied der Geschäftsleitung beim Pharmaunternehmen GSK.