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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Psyche und Corona: Werteabwägung nötig

Ulrich Hegerl, Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Ulrich Hegerl, Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe Foto: Katrin Lorenz

Bereits im Juli 2020 machte Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, an dieser Stelle auf die zahlreichen Folgen der Coronapolitik für die psychische Gesundheit aufmerksam. Passiert ist seitdem wenig, dabei brauche es dringend eine systematische Abwägung der Gesundheitsschäden, so der Psychiater.

von Ulrich Hegerl

veröffentlicht am 11.03.2021

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Von jedem Arzt wird mit Recht erwartet, dass er nicht nur die positiven Effekte seiner Behandlung im Auge hat, sondern mit gleicher Sorgfalt die unerwünschten Nebenwirkungen. Nur so kann die Abwägung der Vor- und Nachteile, der Kern jeden verantwortlichen Handelns, erfolgen. Gleiches gilt für die Politiker, die Maßnahmen gegen Covid-19 beschließen. Eine bestmögliche Schätzung dessen, was man an Leid und Tod einerseits verhindert und andererseits verursacht, ist unerlässlich.  

Bei dieser Nutzen-Risiko-Diskussion sind auch psychische Folgen der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie zu berücksichtigen. Diese psychischen Folgen lassen sich grob in drei Bereiche einteilen:  

Gesundheitliche Folgen am Beispiel Depression: An dieser Stelle wurde bereits dargelegt, dass im Sommer vergangenen Jahres bei einer eigenen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen von 5178 Personen 58 Prozent der Menschen mit Depressionen über Covid-19-bedingte Verschlechterungen der medizinischen Versorgung berichteten. Hinzu kamen häufige Angaben über Schwierigkeiten, den Tag zu strukturieren, vermehrtes Grübeln, Rückzug ins Bett sowie reduzierte körperliche Bewegung. Das sind alles Faktoren, die ganz spezifisch die Verläufe depressiver Erkrankungen negativ beeinflussen.

Kein massenhaftes Neuauftreten von Depressionen

Zusammengenommen ist mit gravierenden gesundheitlichen Folgen der Covid-19-Maßnahmen für die jährlich circa fünf Millionen depressiv erkrankten Menschen zu rechnen. Erinnert sei, dass Depressionen schwere und oft lebensbedrohliche Erkrankungen sind, die mit einer um zehn Jahre reduzierten Lebenserwartung einhergehen. Weitere Beispiele sind Abstürze in die Drogen- und Alkoholabhängigkeit, die auch oft mit häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder verbunden sind, oder gesundheitliche Folgen der Maßnahmen gegen Covid-19 aus anderen Bereichen der Medizin. Weniger begründet erscheint dagegen die Sorge, dass es Covid-19-bedingt zu einem massenhaften Neuauftreten von Depressionen kommt, da diese recht eigenständige Erkrankungen sind, die weniger von äußeren Faktoren abhängen, als oft vermutet wird.  

Die Suche nach der optimalen Balance zwischen Vor- und Nachteilen der Maßnahmen gegen Covid-19 wäre bei diesen gesundheitlichen Folgen im Prinzip noch relativ leicht möglich, da Leid und Tod mit Leid und Tod in ein Verhältnis gebracht werden. Bei anderen psychischen Folgen ist dies schwieriger.  

Normalpsychologische Folgen

Zahlreiche, nicht krankhafte psychische Reaktionen auf die Maßnahmen gegen Covid-19 sind beschrieben worden. Im Rahmen der oben genannten Befragung der Allgemeinbevölkerung wurde im Sommer nach dem Lockdown über Bedrückung (36 Prozent), Sorgen durch Bedrohung der beruflichen Existenz (28 Prozent) oder Stress durch die Kombination von „Homeoffice und Homeschooling“ (22 Prozent) berichtet. 

Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich Millionen Menschen mit großer Not und Verzweiflung. Deutliche Zunahme des zuvor bereits hohen Medienkonsums bei Kindern und Jugendlichen (täglich zwei Stunden länger) und Gewichtszunahme, wie von anderen beschrieben, sind weitere Folgen der Corona-Maßnahmen, die Langzeitwirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung erwarten lassen. 

Folgen für das allgemeine Lebensgefühl 

Die Maßnahmen gegen Covid-19 führen zudem zu Veränderungen des Lebensgefühls, die subtil und schwer quantifizierbar sind, jedoch dennoch für unser Menschsein sehr bedeutsam sein können. Beispiele sind ein medial befeuertes, anhaltendes, diffuses Bedrohungsgefühl, der Verlust der unbeschwerten Freude am geselligen Beisammensein oder Veränderungen des Selbstverständnisses als freie Person in einer freien Gesellschaft. All dies sind nur Beispiele. 

Lassen sich Vor- und Nachteile der Corona-Maßnahmen gegeneinander aufrechnen? Kritiker der Maßnahmen gegen Corona weisen häufig auf die vielfältigen, normalpsychologischen und unser Menschsein betreffenden Folgen hin, oft auch auf ökonomische und freiheitsrechtliche Aspekte. Die Verteidiger der Maßnahmen stellen dagegen die Covid-19-Todesfälle, die möglicherweise durch die Maßnahmen verhindert werden können, in den Vordergrund. Beide Seiten betonen meist, dass man das eine nicht gegen das andere aufrechnen kann und machen dann einen weiten Bogen um die Frage, die wie ein rosa Elefant im Raum steht: Wieviel dieser nicht-medizinischen Folgen, die Millionen Menschen betreffen, nehmen wir in Kauf, um wieviel Corona-bedingte Todesfälle zu verhindern? 

Systematische Analyse notwendig

An diesem tabuisierten, zynisch wirkenden Punkt berühren sich die oft unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen. Es handelt sich um eine Werteabwägung, die mit kühlem Verstand alleine nicht zu beantworten ist. So mancher ältere, multimorbide Mensch wäre beispielsweise das Risiko einer tödlichen Infektion ohne Zögern eingegangen, um regelmäßig Besuch durch Kinder und Enkelkinder erhalten zu können und nicht die knappe, verbleibende Lebenszeit in sinnentleerter Einsamkeit verbringen zu müssen. 

Wertediskussionen sind langwierig und es ist verständlich, dass zu raschen Entscheidungen gezwungene Gesundheitspolitiker derartige Fragen ausblenden und sich an Infektions- und Todeszahlen halten. Komplizierend kommt hinzu, dass für einige Menschen die Covid-19- Krise auch positive Folgen wie eine größere Bewusstheit und Dankbarkeit für das eigene Leben oder die Entschleunigung von Alltagsprozessen hat. Das Ausblenden dieser Frage birgt jedoch die große Gefahr, dass nur Zählbares zählt.   

Unentschuldbar war und ist, wenn auch die leichter zu beantwortende Frage nach dem Ausmaß an Leid und Tod, das durch die Maßnahmen verhindert versus verursacht wird, ausgeblendet wird. In der Öffentlichkeit zumindest ist eine breite Diskussion dieser entscheidenden Frage nicht erkennbar. Zu fordern wäre hier nicht nur, dass die dazu vorhandenen Daten und Schätzungen in systematischer Weise zusammengetragen werden, sondern dass zudem relevante Daten gezielt erhoben und alles zusammen von einer Expertengruppe aus Medizinern unterschiedlicher Fachbereiche, Epidemiologen, Soziologen und Gesundheitspolitikern kontinuierlich analysiert wird. Nur so kann das Verhältnis zwischen Vor- und Nachteilen der getroffenen Maßnahmen beurteilt und optimiert werden.

Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Seit Juni 2019 ist er Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main.

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