Der Umbau der Energieversorgung, die Verkehrswende, die Anpassungen an die Folgen des Klimawandels oder die Digitalisierung: Deutschland und Europa stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Die anstehende große Transformation wird die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger grundlegend verändern. Die neue europäische Sicherheitsarchitektur und die globalen Klimaziele tragen zu einer weiteren Beschleunigung bei.
Angesichts der Tragweite dieser Transformationsprozesse ist die Forderung nach Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gerechtfertigt. Während damit häufig nur die Möglichkeit der schnelleren Umsetzung von Großprojekten verbunden wird, stellt die demokratische Legitimation von Entscheidungen eine zweite wesentliche Dimension von Beteiligung dar. Denn die technologische, ökologische und ökonomische Transformation ist eben auch eine gewaltige Umverteilung von Kapital, Gütern und politischem Einfluss. Auf die daraus resultierenden sozialen und gesellschaftlichen Fragen gibt es keine vorgefertigten Antworten. Diese sollten vielmehr in einem demokratischen Prozess ausgehandelt werden.
Was sind Mini Publics?
Was auf den ersten Blick nach bloßer politischer Theorie aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine herausfordernde praktische Aufgabenstellung: Um eine solche breite gesellschaftliche Aushandlung zu begleiten, müssen zunächst die notwendigen Werkzeuge und Institutionen geschaffen werden. Als vielversprechendes Instrument sind hierbei Mini-Publics zunehmend in den Fokus geraten.
Die Idee der Mini-Publics wird oft mit dem Namen Robert Dahl in Verbindung gebracht. Der US‑amerikanische Politikwissenschaftler schrieb schon in den 1980er-Jahren von einem sogenannten minipopulus, einem Rat von Bürgerinnen und Bürgern als demographisches Abbild der Bevölkerung. Der Auftrag des Rates ist die Deliberation, die informierte Beratschlagung über politische Entscheidungen als Ergänzung zur klassischen politischen Repräsentation.
Mini-Publics gibt es in verschiedenen Formen und Anwendungsbereichen. Als Reaktion auf die Finanzkrise etwa veranlasste Island 2010 die Einberufung eines Komitees von Bürgerinnen und Bürgern zur Erarbeitung einer neuen Verfassung. Frankreich reagierte 2019 auf die Protestbewegung der Gelbwesten mit einer groß angelegten Bürgerdebatte (Grand Débat National). Und Anfang Mai legte die „Konferenz zur Zukunft Europas“ dem europäischen Parlament ihre Vorschläge für die Reform der EU vor.
Den Pluralismus der Gesellschaft abbilden
All diese Gremien eint, dass sie aus zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern bestehen, die in ihrer Zusammensetzung die Gesamtbevölkerung abbilden. Dabei wird in der Regel besonderer Wert auf die Einbeziehung von unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen gelegt. Allen Betroffenen soll eine Stimme im Diskurs gegeben werden. Ziel ist es, den Pluralismus der Gesellschaft abzubilden und alle Meinungen und Interessen zu berücksichtigen. Begleitet werden die Mini-Publics von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Informationen bereitstellen und für fachliche Fragen zu Verfügung stehen. Die Bürgerinnen und Bürger erarbeiten dann konkrete Vorschläge und Leitlinien für zukünftige Entscheidungen.
Mini-Publics erschaffen besonders geschützte Räume der Kommunikation und erfüllen damit ein wichtiges Anliegen deliberativer Demokratien. Abseits der Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung wird die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Positionen und Bedürfnissen forciert. Es zeigt sich, dass sich dadurch Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen einander annähern und radikale Meinungen eingefangen werden können. Es geht jedoch nicht um die Erarbeitung eines ultimativen Konsenses, sondern um die Koordination tendenziell divergierender Interessen und die Schaffung neuer Lösungsoptionen. Wo der ungeregelte öffentliche Diskurs zur Polarisierung tendiert, können Mini-Publics ein relevantes Versprechen von Demokratien einlösen. Denn der freie und gleichberechtigte Austausch von Informationen gilt als Grundlage für Innovationsfähigkeit und Wohlstand.
Und so sollen Mini-Publics die Kraft der Deliberation für die Transformation nutzbar machen. Denkbar ist neben der nationalen und internationalen Ebene auch der lokale Einsatz dieser Form der Entscheidungsfindung. Berlin beispielsweise nutzt derzeit einen Klimabürger:innenrat zur gerechten und gemeinschaftsfähigen Ausgestaltung konkreter Klimaschutzmaßnahmen der Stadt. Wo Städte und Kommunen vor komplexen und weitereichenden Richtungsentscheidungen stehen, können Mini-Publics ein Treiber der Transformation sein. Entscheidungen, die auf Basis der Empfehlung von Mini-Publics getroffen werden, erfahren eine größere Zustimmung. Sie eröffnen damit die Möglichkeit für weitreichendere politische Entscheidungen. Aus diesem Grund hat auch die Bundesregierung die Schaffung von Bürgerräten im Koalitionsvertrag vorgesehen.
Es ist zu erwarten, dass sich Mini-Publics als eine weitere Form der demokratischen Entscheidungsfindung etablieren werden. Auch eine dauerhafte Institutionalisierung von Bürgerräten wie etwa die Pariser Assemblée citoyenne ist denkbar. Diese hat den Weg für Mini-Publics auch für kleinere Kommunen und Regionen geebnet. Die Einbindung digitaler Formate kann die breite Anwendung deliberativer Foren ergänzen. Erst in der Breite werden Mini-Publics ihr volles Potenzial für eine gerechte, schnelle und stabile Transformation entfalten.
Hannah Schmude ist Consultant bei der PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH. Sie betreut Projekte im Marktbereich Nachhaltigkeit, Umwelt und Klimaschutz. Zuvor war Hannah Schmude als Projektmanagerin in den Themenbereichen kommunale Klimaanpassung und Bioökonomie tätig und hat in diesem Kontext ebenfalls Beteiligungsformate mit der Öffentlichkeit durchgeführt.
Fritz Gillerke ist Consultant bei der PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH. Er betreut Projekte im Marktbereich Nachhaltigkeit, Umwelt und Klimaschutz. Zuvor war Fritz Gillerke Forschungsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung im Schwerpunkt-Cluster zur Großen Transformation. Fritz Gillerke forscht an der Universität Bayreuth zur Rolle demokratischer Institutionen im Klimawandel.