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Smart City

Standpunkte Warum in Kiezen die Zukunft der modernen Stadt liegt

Till Behnke, Gründer und Geschäftsführer des Nachbarschaftsnetzwerks Nebenan.de
Till Behnke, Gründer und Geschäftsführer des Nachbarschaftsnetzwerks Nebenan.de Foto: Foto: nebenan.de

In der Rückbesinnung auf das Lokale, auf die Welt vor unserer Haustür, liegt eine große Chance, schreibt Till Behnke, Gründer des Nachbarschaftsnetzwerks Nebenan.de. Digitale Werkzeuge und Plattformen könnten einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass sich Nachbarschaften vernetzen und sich bei Problemen helfen. Die Politik ist gefordert, zentrale Lösungen dafür bereitzustellen.

von Till Behnke

veröffentlicht am 01.11.2022

aktualisiert am 09.02.2023

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Krieg, Inflation, Kostenexplosion, Klimawandel: Unsere Welt steht (teils buchstäblich) in Flammen. Die große Frage: Was können wir dagegen tun? Gefühlt wenig bis nichts. Eine jahrzehntelange Globalisierung auf Steroiden hat unser Leben abstrakter und komplexer gemacht – aber nicht zwingend besser. Wir sitzen in unseren Single-Haushalten, verbringen den Arbeitstag isoliert im Homeoffice und den Feierabend mit Reels von Tiktokern aus San Francisco. Glücklich macht das die wenigsten.

Die Menschen wollen helfen – gebt ihnen digitale Werkzeuge dafür

Was tun gegen Ohnmacht und Einsamkeit? Die Antwort liegt vor unserer Tür, in unserem Kiez, in unserer Nachbarschaft. Hier gibt es Probleme, die wir selbst lösen können. Hier gibt es reale Begegnungen und wirkliche Interaktionen. Hier können wir gemeinsam Dinge bewegen. Immer mehr Menschen wollen das. Das merken wir an dem Nutzer:innenverhalten in unserem Netzwerk Nebenan.de. Diesen Tatendrang gilt es zu unterstützen. Mit den richtigen digitalen Werkzeugen. Hier ist die Politik gefragt, von der Bundesregierung bis hin zu Kommunen.

Denn in der Rückbesinnung aufs Lokale, auf die Welt vor unserer Haustür, liegt eine große Chance. Gerade in diesen Tagen. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Situationen tendenziell sozialer miteinander umgehen. Für den Trend zum Helfen muss dringend eine passende Infrastruktur geschaffen werden. Für eine moderne Stadt – mit lebendigen Vierteln und solidarischen Nachbarschaften.

Digitale Daseinsvorsorge endet nicht mit dem Glasfaserausbau

Digitale Daseinsvorsorge muss daher mehr sein als der Ausbau von Glasfasernetzen. Digitale Daseinsvorsorge muss Softwareanwendungen beinhalten, die politische Verwaltungsaufgaben ebenso ermöglicht wie sozialen Austausch und Vernetzung – zwischen Verwaltung und Bürger:innen genauso wie von Bürger:in zu Bürger:in.

Das 2017 in Kraft getretene Onlinezugangsgesetz verpflichtet Bund und Länder, ihre Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten. Von den 575 vorgesehenen Leistungen sind bis dato gerade mal 106 live gegangen. Die Digitalisierung unserer Verwaltung verläuft also äußerst schleppend, dabei ist der Bedarf der Menschen an einem unkomplizierten Zugang zu behördlichen Services gerade jetzt besonders groß. Und die Angebote, die es schon gibt, könnten noch viel bekannter gemacht werden.

Wo finde ich Hilfe, wenn Inflation und Energiepreise meine finanziellen Möglichkeiten an die Grenze bringen? Wann finden Corona-Impfungen statt? Wer hat ein Bett frei für die aus der Ukraine geflüchtete Frau mit Kleinkind? Wie kann ich mich bei der Bezirksentwicklung einbringen? Und wie kann ich dafür abstimmen, dass der Schulweg meiner Kinder einen Zebrastreifen bekommt? All das und noch viel mehr ließe sich am effizientesten über zentrale, einfach zugängliche digitale Tools lösen.

Eine Investition in unsere Demokratie

Städte und Kommunen brauchen einen möglichst direkten Draht zu ihren Bewohner:innen, Politiker:innen den engen Kontakt zu den Menschen, die sie repräsentieren sollen. Viele Leute sind bereit, sich für die lokale Gemeinschaft zu engagieren, wenn sie ein echtes Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Nachbarschaft erhalten. Richtig genutzt entsteht durch den digitalen Austausch eine Win-win-Situation.

Und gerade angesichts wachsender Politikverdrossenheit und Zulauf für politische Extreme ist solch ein Dialog essenziell. Der hyperlokale Zugang zu demokratischen Prozessen kann das Vertrauen in die Politik und damit die Demokratie stärken. Dieses Vertrauen, dass „die da oben“ nach bestem Wissen und Gewissen in unserem Sinne entscheiden, braucht es heute mehr denn je.

Geringe Kosten, große Wirkung

Der Schritt zum smarten Kiez muss übrigens nicht viel kosten. Die Stadt Berlin gibt jährlich eine mittlere zweistellige Millionensumme für die Entwicklung sogenannter Problem-Bezirke aus. Ein Prozent dieser Summe würde ausreichen, um die vorhandenen Bemühungen um ein zeitgemäßes, digitales Kommunikationsinstrument zu erweitern. In Relation zu den Kosten wäre die Hebelwirkung immens.

Zumal auf solch einer Plattform nicht nur Politik und einzelne Bürger:innen in den Austausch gebracht werden könnten, sondern auch gesellschaftliche Institutionen und lokale Gewerbetreibende. Die richtige Technologie kann hier also ein Hilfsmittel und eine Schnittstelle sein, um einen umfassenden Mehrwert für das echte Leben zu liefern. Die Pandemie hat uns unseren Kiezen ohnehin schon näher gebracht, weil wir hier nicht mehr nur schlafen, sondern längst auch den Arbeitstag verbringen. Immer mehr Städte verfolgen nach dem Vorbild von Paris die Idee einer 15-Minuten-Stadt, in der die Bewohner:innen innerhalb von einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Rad alle für das alltägliche Leben relevanten Orte erreichen können.

Lebendige Kieze steigern die gesellschaftliche Resilienz

Denn auch die Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels liegen im Lokalen. Zumindest was die individuelle Ebene, sprich den eigenen CO2-Ausstoß, anbelangt. Wo es kurze Wege gibt, braucht es kein Auto – schon gar nicht, wenn ich mir bei Bedarf das Lastenrad aus der Nachbarschaft für den Großeinkauf leihen kann.

Lebendige Kieze, mit einladenden öffentlichen Plätzen, belebten Geschäften und aktiven gemeinnützigen Einrichtungen sind die Grundlage für ein solidarisches Miteinander. Die persönliche Begegnung ist das beste Gegenmittel gegen das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft. Sie macht uns resilient. Sie gibt uns die Gewissheit, dass wir nicht alleine sind in Zeiten der kumulierten Krisen. Dass wir – vielleicht nicht im Großen, aber ganz sicher im Kleinen – Probleme lösen, Herausforderungen meistern und unsere Zukunft gestalten können.

Warum nicht vor der eigenen Haustür damit anfangen? Der Wille ist vorhanden, jetzt kommt es auf die richtigen Werkzeuge an.

Till Behnke ist Gründer und Geschäftsführer des Nachbarschaftsnetzwerks Nebenan.de, über das 2,5 Millionen Nutzer:innen in mehr als 400 Städten vernetzt sind. Zuvor gründete er bereits in den 2000ern die Spendenplattform Betterplace.org.

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