Der Koalitionsvertrag der Ampel beschäftigt sich vor allem mit dem Verkehr über große Distanzen mit Auto, Bahn und Flugzeug. Das liegt in der Natur der bundespolitischen Sache; lokale Details werden scheinbar vor Ort entschieden. Aber auch sie sind stark durch Bundespolitik vorgeprägt: durch Geldmittel für Investitionen und Betrieb, aber auch durch bundesweite Regeln wie die Straßenverkehrsordnung.
Da macht der Bund den Städten und Gemeinden sehr genaue Vorgaben, was sie zu tun und zu lassen haben. So ist Tempo 30 auf größeren Straßen nur in eng definierten Einzelfällen und auf kurzen Abschnitten erlaubt. Selbst zu Zebrastreifen legen eine Verordnung und dazu noch eine Richtlinie des Bundes detailliert fest, wo sie angelegt werden dürfen – und vor allem, wo nicht.
Andreas Scheuer blockierte alle Tempo-30-Vorstöße
Jetzt will die Koalition laut Vertrag „Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume eröffnen“. Wohin die lokale Reise gehen soll, zeigt ein Beschluss, den im April dieses Jahres die Verkehrsminister der 16 Bundesländer einstimmig fassten – auch der designierte Bundesverkehrsminister der FDP, Volker Wissing, für Rheinland-Pfalz. Danach soll Unfallschutz eine viel größere Rolle spielen; das Prinzip heißt „Verkehrssicherheit vor Leichtigkeit“.
Städte sollen Modellversuche machen dürfen, in denen im Ort 30 die Regel und 50 die Ausnahme ist, die mit Extra-Schildern markiert wird. Solche Versuche hatte schon die große Koalition im Bundestag gefordert, und zahlreiche Städte hatten sich beworben – doch der tempoorientierte Andreas Scheuer blockierte alle Vorstöße.
Hier darf man auf Wissing gespannt sein. Er hatte sich schon 2015 einerseits gegen ein „Tempo-30-Korsett“ ausgesprochen, aber andererseits liberal postuliert, Kommunen sollten „selbst entscheiden, wo Zonen mit reduzierter Geschwindigkeit sinnvoll sind und wo nicht“. Verbände von Radfahrern und Fußgängern sehen Tempo 30 als wichtigsten Einzelschritt für mehr Sicherheit, das leichtere Überqueren von Fahrbahnen und einen Verkehrsfluss mit weniger Konflikten durch starkes Tempo-Gefälle.
Wissing wird weniger forsch vorgehen als eine grüne Ministerin
Öffentliche Verkehrsunternehmen sind teils skeptisch, aber einige hoffen, geringeres Tempo von Bussen oder Trams durch einen insgesamt gleichmäßigeren, damit flüssigeren Verkehr zu kompensieren. Der künftige Berliner Senat will jedenfalls „alle rechtlichen Möglichkeiten zur Ausweitung von Tempo 30 nutzen“ – so sein am Montag veröffentlichter Koalitionsvertrag.
Ein wichtiger Satz im Beschluss der Ampelkoalition definiert Aufgaben, die für die Straßenverkehrsordnung neu sind: Nunmehr sollen in ihr auch „Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden“. Auch wie sie gewichtet werden, sollen die Städte und Gemeinden im Einzelfall selbst definieren. Sie könnten mit diesem Instrument leichter als heute Straßenräume umgestalten und anders nutzen. Nicht nur für breite Geh- oder Radwege, sondern auch für Grün, Aufenthalt und Spiel.
Die Straßenverkehrsordnung beschließt aber nicht der Bundestag; die Initiative muss vom Verkehrsminister ausgehen. Man darf annehmen, dass Wissing hier weniger forsch vorgeht als es eine grüne Ministerin würde – ebenso beim Generalversprechen der Koalition für eine „nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität“.
Verkehrsdaten sollen kein exklusives Gut mehr sein
Für Busse und Bahnen im Nahverkehr will der Koalitionsvertrag „die Fahrgastzahlen deutlich steigern“ – ein in Zahlen und Zeiträumen aber so diffuses Projekt wie der „Ausbau- und Modernisierungspakt“, der Finanzierungsanteile zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu verteilen soll.
Zudem will die Koalition „Qualitätskriterien und Standards für Angebote und Erreichbarkeit für urbane und ländliche Räume definieren“. Verkehrsdaten sollen kein exklusives Gut mehr sein: „Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen.“
Kurz und in einem Punkt bizarr ist der Absatz mit dem Titel „Radverkehr“. Hier sollen Ausbaupläne fortgeführt und das Umsteigen zwischen Rad und öffentlichem Verkehr gefördert werden. Bizarr ist, dass unter „Radverkehr“ auch der einzige explizite Satz zum bundesweit doppelt so starken Fußverkehr steht und inhaltlich fast nichts: Die Koalition will das Gehen „strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen“.
Freiheit der Nicht-Autofahrer bisher kein FDP-Thema
Man darf gespannt sein, welches Verständnis von Liberalismus der von der FDP gestellte Verkehrsminister seiner Politik zugrunde legt. Das Bundestags-Wahlprogramm der Partei wandte sich gegen „unverhältnismäßige Verbote in der Mobilität“ und meint damit „Tempolimits, Diesel- oder Motorradfahrverbote“ – hat also vor allem die Freiheit beim Auto- und Motorradfahren im Blick.
Kein Thema im FDP-Wahlprogramm war die Freiheit der anderen, die zum Beispiel mit Bus und Tram im Stau stehen, mit dem Rad auf schnell befahrenen Fahrspuren unterwegs sind oder zu Fuß quer dazu. Immerhin fordert die Partei „die vollständige und umfassende Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Von ihr profitieren Menschen mit Behinderungen, Familien mit Kindern, ältere Menschen und letztlich wir alle.“
Die FDP lässt sich aber nicht weiter darüber aus, ob damit nur Einzelthemen wie abgeflachte Bordsteine gemeint sind – oder viel mehr ein umfassendes Programm, damit auch diese Menschen sicher und unbehindert durch die bisher tempodominierte Stadt kommen.