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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Die Dekarbonisierung des Straßengüterverkehrs jetzt angehen

Giverny Knezevic, wissenschaftliche Referentin am IKEM
Giverny Knezevic, wissenschaftliche Referentin am IKEM

Elektrische Straßensysteme haben das Potenzial, zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen im Schwerlastverkehr beizutragen. Damit diese Technologie-Ansätze großflächig zum Einsatz kommen können, braucht es zügige, koordinierte Entscheidungen und ein mutiges Vorgehen – von Deutschland und der Europäischen Union.

von Giverny Knezevic

veröffentlicht am 04.10.2023

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Den Straßengüterverkehr klimafreundlicher zu gestalten, ist eine komplexe Aufgabe. Sowohl Verkehrsvermeidungsstrategien als auch eine Verlagerung auf andere Verkehrsmittel sind wichtige Ansätze. Da eine grundsätzliche Reduzierung des Lkw-Verkehrs jedoch nicht absehbar ist, müssen wir Alternativen zu fossilen Antrieben identifizieren, weiterentwickeln und flächendeckend zum Einsatz bringen.

Während bei den leichten Nutzfahrzeugen batterieelektrische Systeme aktuell die Nase vorne haben, ist das Rennen beim Schwerlastverkehr noch nicht entschieden. Eine Technologiegruppe, deren Potenzial momentan in verschiedenen Feldversuchen untersucht wird, sind sogenannte Elektrische Straßensysteme (Electric Road Systems – ERS), also Infrastrukturen – zum Beispiel Oberleitungen oder induktive Ladetechnologien –, mit denen Elektrofahrzeuge während der Fahrt mit Energie versorgt werden können.

ERS konkurrieren mit Technologien, die auf Batterien und Wasserstoff-Brennstoffzellen als zentrale Elemente setzen. Jeder dieser Ansätze hat seine Vor- und Nachteile – bei ERS stehen eine hohe Energieeffizienz, lange unterbrechungsfreie Fahrtzeiten sowie tendenziell geringere Fahrzeugkosten unter anderem höheren Kosten für die Infrastruktur gegenüber. Hier liegt, wie bei allen neuen Infrastrukturen, der Knackpunkt: Wer übernimmt die Koordination und Anstoßfinanzierung, bis ein System entstanden ist, das sich aufgrund seiner Größe und Marktdurchdringung selbst trägt?

Der Markt allein wird es nicht richten

Der ERS-Aufbau wird teuer – das Öko-Institut beziffert den Preis für ein 4300 Kilometer langes Oberleitungs-Kernnetz in Deutschland in einer Studie auf rund zwölf Milliarden Euro. Trotz der Erkenntnis, dass es auch andere Dekarbonisierungsoptionen nicht zum Nulltarif gibt, ist nicht mit einer Initiative der Fahrzeughersteller oder anderer Akteure zu rechnen. Die Risiken für Investitionen in dieser Größenordnung sind für einen rein privatwirtschaftlichen Aufbau und Betrieb der Infrastruktur schlicht zu hoch.

Der Staat hat mit den Klimaschutzzielen, die nicht zuletzt im Verkehrssektor in weiter Ferne liegen, einen guten Grund, dieses Risiko zu übernehmen. Neben einer öffentlichen Finanzierung sind dabei auch Modelle unter Beteiligung privatrechtlicher Akteure möglich. Diese könnten, ausgestattet mit staatlichen Garantien, ähnlich wie die Netzbetreiber im Stromsektor den Aufbau und Betrieb der Infrastruktur übernehmen. Ungeachtet der späteren Ausgestaltung brauchen wir aber den politischen Willen, diese Garantien auch zu übernehmen. Erst dann kann der großflächige ERS-Aufbau beginnen.

Deutschland ist gefordert

Eine Entscheidung der Bundesregierung für oder gegen ERS ist auch deshalb wichtig, weil Deutschland aufgrund seiner zentralen Position und den mit Abstand höchsten transportierten Gütermengen auf der Straße – zuletzt mehr als drei Milliarden Tonnen – eine Vorreiterrolle in Europa zukommt. Unsere Nachbarstaaten, insbesondere Österreich, Polen und die Benelux-Staaten, werden eigene Investitionen in ERS erst ernsthaft erwägen, wenn Deutschland eine positive Pfadentscheidung trifft und gute Rahmenbedingungen für den Einsatz dieser Technologie schafft.

Dazu zählen neben einer geeigneten Wettbewerbsregulierung, vornehmlich in Bezug auf die Fahrstromversorgung, auch flankierende Maßnahmen zur Förderung von elektrisch betriebenen Lkw, etwa ambitionierte Emissionsstandards oder CO2-basierte Mautkosten. Eine weitere Baustelle ist die internationale Verflechtung, die im Güterverkehr naturgemäß eine wichtige Rolle spielt. Ein Vorpreschen Deutschlands darf nicht zum Alleingang werden.

Mehr Europa wagen

Das gilt im Übrigen für alle Mitgliedsstaaten, denn die aktuell in Deutschland erprobten Oberleitungen sind nur ein mögliches ERS: Frankreich etwa baut Teststrecken für Stromschienen sowie induktives Laden und Schweden erprobt ebenfalls mehrere Technologien. Diese Vielfalt ist ungemein wichtig für die Weiterentwicklung der Technologie, darf aber nicht zu einem späteren Flickwerk führen. Damit ERS in Europa einen nennenswerten Beitrag zur Dekarbonisierung leisten können, müssen wir zeitnah auf einen möglichst breiten Konsens hinarbeiten.

Diesen Prozess muss die Europäische Union aktiv begleiten, entweder durch eine europaweite Steuerung und Standardisierung oder durch eine bessere Koordination der Projekte in den Mitgliedsstaaten, insbesondere entlang der TEN-T-Verkehrskorridore. Eine umfassende ERS-Strategie fehlt der Europäischen Union, aber immerhin gibt es erste Ansätze: Die neue Verordnung zur Infrastruktur für alternative Kraftstoffe definiert nun ERS und fördert damit ihre Standardisierung. Und bis Ende 2024 muss die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht über die Technologie- und Marktreife schwerer Nutzfahrzeuge vorlegen. Dieser Bericht, von dem sich viele Stakeholder erste Hinweise auf eine politische Richtungsentscheidung erwarten, wird auch ERS adressieren.

Wohin geht die Reise?

Aufgrund der CO2-Bepreisung werden die Dieselpreise perspektivisch steigen und irgendwann sehr teuer. Für die Logistikbranche steigt damit der Druck, eine langfristig tragfähige Lösung für die Energieversorgung ihrer Fahrzeuge zu finden. Hierbei sollten ERS eine wichtige Rolle spielen. Unter den diskutierten Technologien und auch unter den ERS sind Oberleitungs-Lkw bereits heute so weit ausgereift, dass ihre Herstellung innerhalb kurzer Zeit skaliert werden kann.

Der koordinierte Aufbau der notwendigen Infrastruktur und eines europäischen ERS-Netzwerks bleibt selbstverständlich eine enorme Aufgabe. Und ob diese Lösung letztlich die wirtschaftlichste ist, bleibt offen. Angesichts des dringenden Dekarbonisierungsbedarfs beim Güterstraßenverkehr sollten solche Erwägungen jedoch hinter dem Ziel der Erreichung der Klimaziele zurückstehen. Vielmehr brauchen wir ein mutiges und entscheidungsfreudiges Vorgehen aller Beteiligten – im Hinblick auf die anstehen Pfadentscheidungen insbesondere der staatlichen Akteure.

Giverny Knezevic leitet am IKEM das Projekt AMELIE II, in dem Abrechnungssysteme und Standardisierungsprozesse für Oberleitungs-Lkw entwickelt wurden. Die Ergebnisse werden bei der Abschlusskonferenz und der IKEM-Jahrestagung am 19. Oktober in Berlin vorgestellt. 

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