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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Grüner Wasserstoff bis 2030 ein Phantom

Jekaterina Boening, Senior Policy Manager bei Transport & Environment
Jekaterina Boening, Senior Policy Manager bei Transport & Environment Foto: promo

Der Vorschlag des Bundesumweltministeriums zur nationalen Umsetzung der RED-II-Richtlinie im Verkehr steht unter Beschuss. Große Industrieverbände äußern ihre Kritik. Doch Unterstützung erhält das Ministerium ausgerechnet vom VW-Konzern. Jekaterina Boening, Senior Policy Manager bei Transport & Environment, der Dachorganisation für nachhaltigen Verkehr, analysiert die Beweggründe des weltweit größten Autobauers.

von Jekaterina Boening

veröffentlicht am 28.10.2020

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Nun ist es raus. VW gibt eine eigene Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesumweltministeriums (BMU) für die nationale Umsetzung der RED II-Richtlinie im Verkehr ab und schert damit aus dem Verband der Automobilindustrie (VDA) aus. Mit dem Schritt offenbart der Konzern eine Spaltung in der deutschen Automobilindustrie. Die Überlegungen, den sogenannten „grünen“ Wasserstoff im Straßenverkehr zu nutzen, hält der größte Autobauer der Welt für wortwörtlich „unsinnig“. Stattdessen setzt der Wolfsburger Hersteller auf Elektroantriebe sowohl im Pkw- als auch im Lkw-Bereich und stützt somit den Gesetzesentwurf des BMU. Was hat der Konzern erkannt, das anderen deutschen Herstellern verborgen geblieben ist?

Die Befürworter von E-Fuels im Straßenverkehr argumentieren, dass die Effizienz bei der Technologieentscheidung kein ausschlaggebendes Kriterium sei, da wir künftig Wasserstoff in großen Mengen importieren würden. Man könne eine bis zu vierfach höhere Energieausbeute in sonnenreichen Regionen als bei den Photovoltaikanlagen in Deutschland erreichen, argumentieren Wirtschaftsvertreter. 

Das Warten auf E-Fuels-Importe kann für die Autobauer teuer werden

Die Wahrheit ist: Wasserstoffimporte sind im Moment nur ein Phantom. Es existieren keine physischen Lieferketten von Wasserstoff und E-Fuels in Europa. Und das einzige Wasserstoffschiff von Kawasaki, das Wasserstoff aus Kohle von Australien nach Japan verschifft, ist nur ein Symbol der japanischen Wasserstoffstrategie und noch lange kein Beweis für die Entstehung eines globalen Marktes.

Für nachhaltig produzierten Wasserstoff befinden wir uns derzeit im Stadium von Machbarkeitsstudien. Im nächsten Schritt wird ein internationaler Rechtsrahmen für Wasserstoffhandel geschaffen werden müssen. Nicht zuletzt nehmen Genehmigungsprozesse und Anlagenbau im Regelfall vier bis fünf Jahre in Anspruch. Physische Lieferungen von „grünem” Wasserstoff in signifikanten Mengen erscheinen daher frühestens ab 2030 realistisch. 

VW hat keine Zeit, auf die Entwicklung eines globalen Marktes für Wasserstoff zu warten. Das Warten kann teuer werden, denn der Wettbewerb findet bald direkt vor der Haustür statt: Mit der Batteriefertigung in Brandenburg hat Tesla künftig einen strategischen Vorsprung in Europa. Mit dem E-Fuels-Pfad riskieren die deutschen Automobilhersteller, auf dem globalen Markt ins Hintertreffen zu geraten. Die Verkaufszahlen der ersten sechs Monate 2020 geben schon heute Grund zur Sorge: Kaum ein anderer Hersteller weltweit hatte einen geringeren Anteil von batterieelektrischen Fahrzeugen an der Gesamtflotte als Daimler oder BMW

Energieintensive Industrien haben Vorrang

Die Industrie klagt, in der Klimaschutzpolitik klafften Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Dabei bauen zahlreiche Wirtschaftssektoren ihre Strategien auf einem Energieträger auf, dessen Verfügbarkeit heute noch nicht gesichert ist. Und während der Straßenverkehr mit batterieelektrischen Antrieben eine höchst effiziente, verfügbare Technologie hat, sind die energieintensiven Branchen wie Stahl, Chemie und Zement auf Wasserstoff wirklich angewiesen. Denn die Alternativen sind begrenzt: Die Nutzung von CCS für Prozessemissionen bleibt nach wie vor umstritten, und das Potenzial der nachhaltig verfügbaren Biomasse ist stark begrenzt

Die Wasserstoffbedarfe der energieintensiven Branchen werden dabei nur zu einem geringen Anteil durch den hiesigen Markt gedeckt werden können. Die jüngst veröffentlichte Studie der Agora Energiewende „Klimaneutrales Deutschland“ ergab einen Importanteil von 80 Prozent des prognostizierten Bedarfs Deutschlands an Wasserstoff und synthetischen Brennstoffen im Jahr 2050. 

Die Weiterentwicklung der deutschen Wasserstoffstrategie, insbesondere deren internationale Dimension, muss sich daher vor allem an den Anforderungen der energieintensiven Industrien orientieren. Der nationale Wasserstoffmarkt dient dabei als Sprungbrett für die künftigen Exporte von Wasserstofftechnologien „Made in Germany“, die für den Aufbau von Importlieferketten unabdingbar sein werden.

Gerade vor diesem Hintergrund schlägt das BMU die Doppelanrechnung von „grünem“ Wasserstoff in Raffinerieprozessen in seinem Referentenentwurf vor. Dabei nimmt das Ministerium in Kauf, dass mit dieser Maßnahme kurz- bis mittelfristig die Produktion fossiler Kraftstoffe unterstützt wird. Zusammen mit der E-Kerosin-Quote im Luftverkehr werden hiermit dennoch wirksame Anreize für den Markthochlauf von Elektrolyse- und Synthese-Anlagen in Deutschland geschaffen. 

Kein Wasserstoff-Imperialismus

Warum dann nicht gleich alles importieren und alles bleibt beim Alten – vom Verbrennungsmotor bis zur guten, alten Ölheizung?

Erstens: Die infrage kommenden Länder wie Marokko, Saudi-Arabien oder Australien haben eigene Energiebedarfe und stehen noch ganz am Anfang der Transformation ihrer Energiesysteme hin zu erneuerbaren Energieträgern.

Zweitens: Sollen sich diese Länder zu Exporteuren von nachhaltig produziertem „grünem“ Wasserstoff entwickeln, werden sie vor dem Hintergrund der Pariser Klimaziele, die für alle gelten, den globalen Markt bedienen. Sprich, Deutschland wird in Konkurrenz zu anderen Importeuren für die begrenzt verfügbaren Produktionsmengen von „grünem“ Wasserstoff stehen. Und diese Produktionsmengen können nicht unendlich steigen, denn auch die infrage kommenden Exporteure werden früher oder später auf Potenzialgrenzen der Land- und Wassernutzung stoßen. 

Die internationalen Wasserstoffprojekte des Bundesforschungsministeriums in Australien und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Marokko sind ohne Zweifel strategisch wichtige Vorhaben der Bundesregierung, die zentral für den Erhalt der industriellen Wertschöpfung in Deutschland sind. Die Partnerländer verfolgen aber auch ihre eigenen Interessen und streben eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe an. Wasserstoffimporte werden daher kein Freifahrtschein in die Klimaneutralität sein, sondern ein kostbares Produkt für ausgewählte Branchen

Abkehr der Bundesregierung vom E-Fuels-Mythos überfällig 

Importe von E-Fuels für den Straßenverkehr zu reservieren, ist also Wunschdenken. Deshalb schafft das BMU mit seinem Referentenwurf zur nationalen Umsetzung der RED-II-Richtlinie wichtige Anreize für den Markthochlauf von Elektromobilität in Deutschland und erfährt hier große Unterstützung von zentralen Marktakteuren wie Volkswagen. Die Klimaziele im Verkehr werden dabei nicht gefährdet, sondern rücken ganz im Gegenteil in greifbare Nähe.

Strom ist der neue Kraftstoff, dessen Beitrag zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors nicht unterschätzt werden darf. Mit steigenden Verkaufszahlen von Elektro-Pkws und Ankündigungen von Lkw-Herstellern, in den kommenden Jahren batterieelektrische Fahrzeuge auf die Straße zu bringen, wird der Beitrag von Elektromobilität an der Erreichung der Klimaziele im Verkehr viel größer ausfallen als bisher angenommen. 

Nicht nur die Industrie muss sich für einen Technologiekurs entscheiden, sondern auch die Politik. Die Abkehr der Bundesregierung vom E-Fuels-Mythos ist längst überfällig. Es ist an der Zeit, das eigentliche Strukturwandelproblem der deutschen Automobilindustrie offen anzugehen.

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