Standpunkte Mehr Regeln für mehr Technik – aber nicht auf dem Rücken der Pedelec-Nutzer

Immer mehr Menschen setzen im Alltag auf das Pedelec. Möglich macht das ein liberaler Rechtsrahmen, der die Nutzung wie bei herkömmlichen Fahrrädern erlaubt. Doch neue Fahrzeugtypen mit mehr Leistung und höherem Gewicht drohen diesen rechtlichen Schutzraum auszuhöhlen. Warum Europa jetzt ein differenziertes, einheitliches Regelwerk für leichte E-Fahrzeuge braucht.
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Jetzt kostenfrei testenSie ist in aller Munde: die Verkehrswende. Wer dabei jedoch nur an Elektroautos oder das Deutschlandticket denkt, greift zu kurz. Anlassbezogen aus einem Mix verschiedener Angebote zu wählen, ist nicht nur die Zukunft der Mobilität, sondern heute schon Realität. Dabei nutzen immer mehr Menschen das Pedelec in ihrem Alltag. Und das nicht nur als Freizeitsportgerät, sondern auch auf dem Weg zur Arbeit, zu Freunden oder zum Einkaufen. Pedelecs haben sich dabei als unscheinbare Gamechanger entpuppt. Sie haben die Städte verändert, den Alltag revolutioniert und Millionen Menschen ein neues Lebensgefühl geschenkt.
Heute sind 16 Millionen Pedelecs auf deutschen Straßen unterwegs. Sie sind lautlos, effizient, erzeugen keinen Parkdruck, und werden ohne Emissionen angetrieben. Es ist der leise Triumph der Verkehrswende – eine Form der aktiven Mobilität, unterstützt von einem Elektromotor mit 250 Watt Nenndauerleistung und einem bemerkenswert liberalen Regelwerk in Bezug auf Zulassungshürden und die Nutzung im Straßenverkehr. Pedelec-Fahrer:innen schätzen die Alltagstauglichkeit ihrer elektrisch unterstützten Fahrräder. Ihre Technik ist ausgereift, ihre Nutzung sicher und der Zugang niedrigschwellig. Kurz gesagt: Pedelecs funktionieren einfach.
Technische Ausstattung trifft Anspruch der Nutzer:innen
Die Ergebnisse einer aktuellen Civey-Umfrage sprechen eine klare Sprache: Zwei von drei Nutzer:innen (67,2 Prozent) schätzen die elektrische Unterstützung beim Fahren ganz besonders. Über ein Drittel fühlt sich durch das Pedelec zu mehr Bewegung motiviert (36,6 Prozent) – und annähernd ebenso viele (31,3 Prozent) sehen es als einfache Art, mobil zu sein. Diese Zahlen zeigen, wie tief verwurzelt das Prinzip „Einfach Fahrrad fahren, einfach dazugehören” im Nutzungserlebnis verankert ist.
Hinzu kommt, dass über 95 Prozent der Befragten die Reichweite ihres E-Bikes als vollkommen ausreichend empfinden – und damit alle alltäglichen Erledigungen und Freizeitaktivitäten abdecken können. Jeweils mehr als 80 Prozent wollen es weiterhin ohne Führerschein oder Kennzeichen wie ein Fahrrad nutzen dürfen und halten ihr Pedelec für bedienfreundlich sowie alltagstauglich. Dies sind keine Nebenaspekte, sondern zentrale Bestandteile des emotionalen Versprechens der Pedelec-Mobilität.
Pedelecs als niedrigschwelliges Angebot für alle
Der einfache Zugang zum Pedelec basiert auf der Verordnung Nummer 168/2013 der Europäischen Union. Diese Verordnung regelt Typgenehmigungsverfahren für die verschiedenen Fahrzeugklassen – eine Ausnahmeregelung in Art. 2.2(h) klammert Pedelecs für eine unbürokratische Nutzung gezielt aus. Und genau diese Essenz der vorhandenen Regeln, die Einfachheit der Pedelec-Nutzung, gilt es auch in Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren. Die dort formulierte Pedelec-Definition mag formal ein Ausnahmetatbestand sein. In der Praxis ist sie jedoch der Schlüssel zur Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an moderner und nachhaltiger Mobilität.
Doch schon heute bieten Hersteller Fahrzeuge mit mehr als 1000 Watt realer Leistung, einem Unterstützungsverhältnis von 1:6 oder mehr, und einem Systemgewicht von 350 Kilogramm an, auch mit Eignung für eine stark kommerzielle Nutzung. Spezifikationen, die die Grenze zwischen Fahrrad und Kraftfahrzeug verschwimmen lassen. Fahrzeuge dieser Größenordnung weisen eine deutlich veränderte Fahrdynamik auf und bergen ein erhöhtes Gefahrenpotenzial im Straßenraum – dennoch steht zur Debatte, ob sie weiterhin unter den rechtlichen Schutzraum des Fahrrads fallen sollen.
Damit droht die paradoxe Situation, dass diese Fahrzeuge auch künftig dieselben Wege nutzen, dieselbe Infrastruktur beanspruchen und formal als gleichwertig gelten – obwohl sie es de facto nicht sind. Das erzeugt Unsicherheit, provoziert Kritik und gefährdet die gesellschaftliche Akzeptanz, auf der die Verkehrswende auf zwei Rädern beruht. In dieser Gemengelage droht das Pedelec zum politischen Spielball zu werden, vor allem dann, wenn aus dem neuen, höheren Gefahrenpotenzial zusätzlich Regelungen abgeleitet würden, die dann auch das einfache, privat genutzte Pedelec betreffen.
Demokratisierte Verkehrswende
Dies ist eine riskante Entwicklung, denn die Verkehrswende bedeutet nicht „Tech-Pioniere zuerst“, sondern „Mobilitätsrealität für alle“. Sie lebt von einer breiten Nutzung, von Alltagsnähe und davon, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Hintergründen Fahrrad fahren.
Deshalb darf der Anspruch der Verkehrswende nicht sein, alles technisch Mögliche sofort zu realisieren. Wenn jedoch Leistung und Gewicht immer weiter steigen, ist es legitim zu fragen: Wie definieren wir künftig, was ein Pedelec ist? Wo endet das Fahrrad, wo beginnt das Kraftfahrzeug? Und: Welche Regeln braucht es, um den Erfolgskurs fortzuschreiben, ohne ihn abzuwürgen?
Die Antwort liegt weder in der Totalverweigerung technischer Innovation – noch in der Überregulierung. Was wir brauchen, ist ein kluges, europaweit einheitliches Regelwerk mit klaren, aber pragmatischen Leitplanken und Abgrenzungen. Unterstützung ja, aber in einem Rahmen, der das Pedelec als aktives Mobilitätsmittel erhält.
Fortschritt nicht auf Kosten des Bewährten
Doch was wäre ein praktikabler Ansatz? Eine jüngste EU-Studie zur Harmonisierung der Regeln für persönliche Mobilitätsgeräte (PMDs) zeigt, dass eine Vereinheitlichung und die Einführung technischer Mindestleistungsanforderungen für PMDs vor allem bei neuartigen Fahrzeugtypen wie E-Scootern, Hoverboards oder Cargo-LEVs sinnvoll ist. Hier fehlt es an klaren technischen Standards, was zu Sicherheitsrisiken und Handelsbarrieren führt. Gibt es diese Standards auch in Zukunft nicht, droht innerhalb der Europäischen Union Kleinstaaterei.
Denn die Verkehrspolitik gehört nach wie vor zu den geteilten Zuständigkeiten der EU gemäß Artikel 4 AEUV. Fehlt eine gemeinsame Linie, droht ein regulatorisches Auseinanderdriften: Einzelne Mitgliedstaaten könnten eigene nationale Sonderwege einschlagen. Die Folge wäre ein Flickenteppich technischer Spezifikationen, der sich nicht nur auf neue Produktentwicklungen auswirkt, sondern auch auf die grenzüberschreitende Nutzung.
Wer heute mit einem Pedelec in Frankreich, Italien oder Österreich unterwegs ist, tut das selbstverständlich. Doch was wäre, wenn einzelne Länder künftig eigene technische Anforderungen für bestimmte Klassen definieren würden – mit abweichenden Leistungsgrenzen, Zulassungspflichten oder Versicherungsauflagen? Im schlimmsten Fall könnten privat genutzte Pedelecs im Nachbarland plötzlich als nicht konform gelten, mit allen Konsequenzen für Nutzer:innen im Alltag und Tourismus.
Jede Innovation im Bereich der Light Electric Vehicles (LEVs) ist berechtigt. Seien es leistungsstärkere Antriebe für bergige Regionen oder intelligente Transportlösungen für den urbanen Lieferverkehr – der Markt zeigt eindrucksvoll, welches Potenzial in diesem Segment steckt. Diese Vielfalt ist nicht nur Ausdruck technischer Kreativität, sondern auch ein zentraler Treiber der Verkehrswende. Doch gerade, weil die Innovationsdynamik so hoch ist, braucht es einen regulatorischen Rahmen, der Unterschiede erkennt und intelligent ordnet, statt alles über einen Kamm zu scheren.
Dieser Widerspruch ist lösbar – wenn wir den Mut zur Differenzierung aufbringen. Wer neue Fahrzeugtypen mit höherem Gewicht, größerer Leistung oder abweichender Nutzung etablieren möchte, braucht dafür auch neue rechtliche Kategorien – passgenau, verständlich und europaweit einheitlich. Nur so kann die Mobilitätswende das bleiben, was sie längst ist: ein stiller Triumph, aus der Mitte der Gesellschaft.
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